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Die Transformation zur Netzwerkgesellschaft (IV)

Abstract: Wir befinden uns in einer fundamentalen Transformation von der Industrie- zur Netzwerkgesellschaft, die vor allem durch die Möglichkeit der technischen Vernetzung vorangetrieben wird. Viele aktuelle Konflikte drehen sich rund um diesen Phasenübergang und der damit verbundenen Nebenwirkungen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die steigende Komplexität, welche mit unserem bisher erfolgreichen Denkrahmen nicht mehr beherrschbar ist. Diese Beitragsserie beleuchtet einige zentrale Aspekte näher und stellt die damit verbundenen Zusammenhänge dar, ganz im Sinne einer systemischen Betrachtung: „Das Verständnis für die Systemkomponenten ergibt sich stets aus der Kenntnis des Ganzen, nicht umgekehrt.“ ​

Bottom-line-up-front: Wenn wir mit der steigenden Komplexität zurechtkommen wollen, müssen wir unsere eigene Komplexität erhöhen und unseren Denkrahmen erweitern. Eine einseitige Komplexitätsreduktion wird scheitern. ​

Problemdarstellung: „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.“ Der Umgang mit Komplexität erfordert neue Perspektiven und Denkansätze.

Was nun?: Nur wer das Problem versteht, kann auch an den richtigen Lösungen arbeiten. Daher geht es vorrangig um eine Problembeschreibung und um das Bewusstmachen wichtiger Zusammenhänge, denn ein System ist mehr als die Summe der Einzelteile. In einer weiteren Artikelserie werden diese Zusammenhänge ganz konkret an aktuellen Problemen im europäischen Stromversorgungssystem sowie an überlebenswichtigen Abhängigkeiten von Versorgungsinfrastrukturen dargestellt.

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Effizienz ohne Effektivität; die Vermeidung der schöpferischen Zerstörung

Die Digitalisierung und die steigende Komplexität werden auch massiv durch unser Wirtschaftssystem und dem damit verbundenem Wachstumszwang vorangetrieben. Wie oft hören wir nicht, dass wir mehr Innovationen benötigen und die Digitalisierung rascher vorantreiben müssen? Meist ist den Rufern dabei nicht bewusst, dass Innovationen zu „Schöpferischen Zerstörungen“ führen. Innovationen lösen Probleme und Aufgaben wesentlich einfacher, billiger und effizienter als die bisherigen Lösungen und machen diese daher obsolet. Kodak, Nokia, Amazon, Uber, Airbnb, Tesla und noch viele andere Beispiele kennen wir bereits, und auch die damit verbundenen Konflikte. Hier scheint es oft nur darum zu gehen: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“, was wohl nicht funktionieren wird. Beim Ruf nach mehr Innovationen geht es auch selten darum, wirklich drängende Probleme der Menschheit zu lösen. Vielmehr soll das Wirtschaftswachstum aufrechterhalten werden, da anderenfalls das damit verbundene Sozialsystem nicht mehr funktionieren würde. Gleichzeitig wissen wir aus den Systemwissenschaften, dass ein System, dass nur durch unbeschränktes Wachstum weiter bestehen kann, nicht überlebensfähig ist.[1] Damit wird auch klar, warum wir mittlerweile in einer fundamentalen Krise stecken. Doch durch die globale Vernetzung, die hohe Arbeitsteilung und den damit verbundenen wechselseitigen Abhängigkeiten kann niemand wirklich einfach aus diesem System aussteigen. Ein Systemwechsel ohne einer „Schöpferischen Zerstörung“ ist fast unmöglich. Dazu gehört auch, dass wir uns viel zu selten die Frage stellen, wozu das Ganze!? Also, ob wir die richtigen Dinge tun, effektiv sind. Stattdessen geht es um Effizienz und Optimierung, also die Dinge richtig zu tun, was durchaus wichtig ist, aber ohne eine Effektivitätsbetrachtung in die Sackgasse führen kann und dies auch tut. Wir wissen bereits seit Langem, dass unsere Gesellschaften einen zu hohen Ressourcenverbrauch haben und wir heute auf Kosten der zukünftigen Generationen leben.[2] Bereits vor 50 Jahren wurde im Rahmen des Berichts an den Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ vor unüberwindbaren Grenzen und damit Zusammenbrüchen gewarnt.[2] Nach wie vor werden die damaligen Erkenntnisse abgetan und angezweifelt, obwohl jüngste Simulationen mit den in der Zwischenzeit angefallenen Realdaten die Ergebnisse bestätigt und verstärkt haben.[3]

Ganz nebenbei entstehen durch die Vernetzung auch noch systemische Risiken, mit denen wir noch wenig Erfahrung haben.

Ganz generell führt eine einseitige Effizienzbetrachtung zu einem Zielkonflikt mit der Robustheit von Systemen, da diese Redundanzen und Reserven erfordert, welche aber nun gerne als „totes Kapital“ und als überflüssig betrachtet und reduziert werden. Ganz nebenbei entstehen durch die Vernetzung auch noch systemische Risiken, mit denen wir noch wenig Erfahrung haben. Diese werden vor allem durch einen hohen Vernetzungsgrad mit vielen wechselseitigen Abhängigkeiten, den Interdependenzen, beschrieben. Dadurch können sich auch Störungen großräumig und umfassend ausbreiten. Durch nicht-linearen Ursache-Wirkungsketten oder „kleine Ursache, große Wirkung“ können enorme Schäden entstehen. Zudem werden Auslöser und mögliche Folgewirkungen deutlich unterschätzt. So wurden etwa die Folgen der 2007 geplatzten amerikanischen Immobilienblase und die damit ausgelösten Folgekrisen, sogenannte Dominoeffekte, trotz Warnungen ignoriert.

Es gibt daher bereits wohl mehr als genug Hinweise auf mögliche bevorstehende Turbulenzen und Umbrüche, welche aus der Systemperspektive häufig mit abrupten Phasenübergängen oder Zusammenbrüchen beschrieben werden [4], [5], [6], wobei abrupt dabei nicht im Sinne von augenblicklich zu verstehen ist, was gerne missverstanden wird, sondern im Sinne sehr kurzer Zeiträume. Es geht vielmehr um einen Aufstieg von Strukturen über Jahrzehnte oder Jahrhunderte und einen Niedergang binnen weniger Jahre. Wenn uns diese Zusammenhänge nicht bewusst sind oder wir sie nicht verstehen, können wir auch nicht an Lösungen arbeiten oder rechtzeitig potenzielle, oft zeitverzögerte, Nebenwirkungen erkennen.

In einer weiterführenden systemischen Betrachtung wird sich Herbert Saurugg mit dem europäischen Stromversorgungssystem und einem möglichen europaweiten Strom-, Infrastruktur- sowie Versorgungsausfalls („Blackout“) beschäftigen.


Herbert Saurugg, MSc, ist internationaler Blackout- und Krisenvorsorgeexperte, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Krisenvorsorge (GfKV), Autor zahlreicher Fachpublikationen sowie gefragter Keynote-Speaker und Interviewpartner zu einem europaweiten Strom-, Infrastruktur- sowie Versorgungsausfall. Saurugg war bis 2012 Berufsoffizier des Österreichischen Bundesheeres (Major), zuletzt im Bereich IKT-/Cyber-Sicherheit und betreibt einen umfangreichen Fachblog (www.saurugg.net). Bei den in diesem Artikel vertretenen Ansichten handelt es sich um die des Autors.


[1] Günther Ossimitz und Christian Lapp, Systeme: Denken und Handeln; Das Metanoia-Prinzip: Eine Einführung in systemisches Denken und Handeln (Berlin: Franzbecker, 2006).

[2] Dennis Meadows, Die Grenzen des Wachstums: Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit (Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1973).

[3] Ernst Ulrich von Weizsäcker und Anders Wijkman, Wir sind dran: Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen (Gütersloh: GVH, 2017).

[4] Bardi Ugo, Der Seneca-Effekt: Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können (E-Book: oekom verlag München, 2017).

[5] John Casti, Der plötzliche Kollaps von allem: Wie extreme Ereignisse unsere Zukunft zerstören können (Piper Verlag GmbH: München, 2012).

[6] John Casti, Roger D. Jones und Michael J. Pennock, Confronting Complexity – X-Events, Resilience, and Human Progress (The X-Press, 2017).

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