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Österreichs Verständnis der Neutralität im Widerspruch zur GSVP der EU? (Teil II)

Abstract: Die Invasion Russlands in der Ukraine hat nicht nur die Diskussion über Verteidigungsbudgets in Europa entfacht, sondern in Österreich zusätzlich die Frage der Neutralität. Der Mentalität Österreichs entsprechend soll unter Aufrechterhaltung der Neutralität der Spagat zur Teilnahme am sicherheits- und verteidigungspolitischen Handeln der Europäischen Union gelingen. Speziell ist die hohe Anerkennung der Neutralität in Österreich selbst bei geringer Bereitschaft sie selbst zu verteidigen. Weiters herrscht die Erwartung vor, dass andere Nationen die Verteidigung Österreichs übernehmen – ein Widerspruch. Dies aufzeigend soll alternativ der Weg einer uneingeschränkten Kooperation unter Gewährleistung eines tatsächlichen Beitrags zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der Europäischen Union (EU) aufgezeigt werden, um den Vorwurf des „sicherheitspolitischen Trittbrettfahrens“ zu entkräften und uneingeschränkte (militärische) Solidarität zu leisten.


Bottom-line-up-front: Der Mythos der Unantastbarkeit als neutraler Staat wurde vielfach aus vermeintlicher Kostenersparnis, politischer Opportunität als auch Unkenntnis gepflegt und die „aktive“ Neutralitätspolitik der Bevölkerung als Alternative suggeriert. Sozialer Wohlstand und die „Insel der Seligen“ haben scheinbaren Frieden vermittelt und die Befürworter der Neutralität von der Realpolitik des 21. Jahrhunderts ferngehalten.


Problemdarstellung: Wie kann der sicherheitspolitische Scheideweg Österreichs im Rahmen von GSVP und Neutralität erfasst werden?


Was nun?: Für eine zukunftsorientierte Sicherheits- und Verteidigungspolitik Österreichs bedarf es einer Änderung des Mindsets in Politik und Gesellschaft. Hiezu bedarf es einer faktenbasierenden Informationskampagne und eines folgenden parteiübergreifenden Schulterschlusses, um eine völkerrechtlich tragfähige Lösung gegenüber der internationalen Gemeinschaft, insbesondere der EU und ihren Mitgliedstaaten, verbindlich zu kommunizieren.


Österreichs Verständnis der Neutralität_Teil 2
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Eine verbundene, solidarische Welt
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Österreichs Neutralität als Selbstbetrug?


Es erscheint, als ob das Neutralitätsgesetz schleichend unterwandert, ja sogar konterkariert wurde. Ohne Neutralitätsvorbehalt der EU beizutreten, selbst aktiv die Entwicklung der GASP und GSVP bis hin zu einer gemeinsamen Verteidigung unterstützten, selbst massiv für eine Beistandspflicht eintreten – passt das zur Neutralität?


Österreich ist bei wesentlichen Initiativen und Institutionen der EU integriert, sei es die European Defence Agency (EDA)[1], Coordinated Annual Review on Defence (CARD)[2], Permanent Structered Cooperation (PESCO)[3], European Defence Fund (EDF)[4] oder auch European Peace Facility (EPF, aus diesem Fond wurden 1,5 Mrd € für Waffen an die Ukraine bereitgestellt)[5]. Sie alle haben den Zweck die nationalen Fähigkeiten der Streitkräfte aufeinander abgestimmt zu verbessern, die Kooperation voranzutreiben – auf das Hauptziel ausgerichtet eine EU-Verteidigungsunion zu schaffen, letztlich ein militärisches Bündnis neben allen politischen und wirtschaftlichen Zielen. Das lässt sich schwerlich mit Neutralität hinsichtlich Nichtbeitritt zu einem militärischen Bündnis beziehungsweise Neutralität als Völkerrechtsinstitut vereinbaren. Doch wann gedenkt man den Souverän, also das Staatsvolk, zu informieren?

Österreichs Neutralität schützt vor Kriegsteilnahme?


Eine Vielzahl der Österreicher:innen sind für die Neutralität, da sie glauben sich dadurch aus Kriegen heraushalten zu können. Dies suggeriert eine non-existente Wahl für oder gegen Krieg. Der Angegriffene entscheidet sich jedoch nicht für Krieg, er wird ihm oktroyiert. Weiters wurde die Problematik der Beistandspflicht innerhalb der EU bereits als Konfliktfeld angesprochen. Wie sieht es aber mit Einsätzen außerhalb der EU aus, den sogenannten Petersberger Aufgaben, die sich im Artikel 43 EUV[6] widerspiegeln? Die Bandbreite reicht von Abrüstungsmaßnahmen, humanitären Aufgaben bis zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Problematisch wird es, wenn es um „Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen“ geht, also Gewaltanwendung ohne Einverständnis Dritter. Das wäre entweder ein klassischer Einsatz mit UN-Mandat nach Chapter VII[7], nachdem ja das Gewaltmonopol bei den Vereinten Nationen liegt – oder andererseits völkerrechtswidrige Gewaltanwendung – sprich nach ursprünglicher Ansicht Österreichs dem Neutralitätsrecht widersprechende Einsätze ohne entsprechendes UN-Mandat, so wie 1999 (NATO im Kosovo) oder 2003 (Coalition of the Willing unter Führung USA im Irak). Artikel 23j der Bundesverfassung verzichtet jedoch auf der Grundlage des Vertrages von Lissabon seit 2010 klar auf ein UN-Mandat. Ein EU-Mandat reiche demnach aus, wie bereits 2001 im Verfassungsausschuss des Österreichischen Nationalrates eindeutig festgehalten wurde.[8] Es wird zwar im Artikel 23j B-VG auf die „Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen“ verwiesen, die aber keine Gewaltmaßnahmen beinhalten. Wie dies dann mit einem Kampfeinsatz nach Artikel 43, Abs. 1, EUV zusammenpasst, ist klärungsbedürftig.[9] Obwohl dies bis dato nicht schlagend wurde, bleibt: Wie sieht es mit einer verlässlichen Neutralitätspolitik, insbesondere Dritten gegenüber, aus, bei der sich völkerrechtlich Neutrale aus jeglichen Kampfhandlungen herauszuhalten haben?


Die Annahme Neutralität verhindert Kriegsteilnahme suggeriert eine non-existente Wahl für oder gegen Krieg. Der Angegriffene entscheidet sich jedoch nicht für Krieg, er wird ihm oktroyiert.

Kampfeinsätze der EU-Eingreiftruppe – mit der Neutralität vereinbar?


Zur Umsetzung der Petersberger Aufgaben nach Artikel 43, Abs. 1, EUV war ursprünglich dem European Headline Goal Prozess folgend bis 2003 die Aufstellung einer EU-Eingreiftruppe in der Stärke von bis zu 60.000 Soldaten geplant, die innert 60 Tagen bis zu einem Jahr eingesetzt werden hätte können. Dieses Ziel wurde verfehlt. Stattdessen wurde das „EU Battlegroup-Konzept“[10] entwickelt. Zwei EU-Battlegroups mit je 1.500 Soldaten sollten im halbjährlichen Rhythmus für derlei Out-of-Area Einsätze innert zehn Tagen verfügbar stehen, innert weiteren fünf Tagen im Einsatzraum für 30 bis längstens 120 Tage; auch Österreich beteiligt sich daran. Zum Einsatz kamen diese Elemente seit ihrer Aufstellung 2005 jedoch nie.


Zwei EU-Battlegroups mit je 1.500 Soldaten sollten im halbjährlichen Rhythmus für derlei Out-of-Area Einsätze innert zehn Tagen verfügbar stehen. Zum Einsatz kamen diese Elemente seit ihrer Aufstellung 2005 jedoch nie.

Indessen wurden als eine unmittelbare Umsetzung des Strategischen Kompass der EU als Ersatz für die EU-Battlegroups eine 5.000-köpfige EU-Eingreiftruppe initiiert. Diese soll durch alle EU-Mitglieder gemeinsam finanziert werden und ab 2023 durch interessierte Nationen gemeinsam für jeweils ein Jahr aufgestellt werden. Auch hier hat Österreich eine Beteiligung zugesagt, verbunden mit der Aussage, dass dies natürlich mit der Neutralität vereinbar sei.[11] Gleichzeitig wurde die Truppe als friedenserhaltende Krisenreaktionskraft verharmlost.

Selbst der Bundespräsident sieht die EU-Eingreiftruppe als „mit dem von Österreich unterzeichneten EU-Beitrittsvertrag "durchaus vereinbar“ (…), räumt aber ein, „es sind sensible Fragen“.[12] Zu beachten ist hierbei, um welche Art von „Neutralität“ es sich handelt, völkerrechtlich oder verfassungsrechtlich. Verfassungsrechtlich spricht tatsächlich nichts dagegen, handelt es sich bei der Teilnahme an der EU-Eingreiftruppe weder um den Beitritt zu einem militärischen Bündnis noch um die Stationierung fremder Truppen. Völkerrechtlich hingegen ist Neutralen die Teilnahme an Kriegen (bewaffneten Konflikten) untersagt, was aber dem Einsatz der EU-Eingreiftruppe bei einem Kampfeinsatz nach Artikel 43, Abs. 1, EUV ohne UN-Mandat gleichkäme.


Aufgrund geänderter Rahmenbedingungen der gemeinsamen Finanzierung ist die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes gestiegen, die rechtlichen Rahmenbedingungen für das „immerwährend neutrale“ Österreich haben sich hingegen nicht verändert. Ausgehend davon, dass Österreich einsatzrelevante Kräfte stellen werde, könnte die politische Führung Österreichs bei der Entsendung in einen Kampfeinsatz zur Befriedung einer Region gegen den Willen Dritter, nur mit EU-Mandat ausgestattet, entscheiden müssen, nicht teilzunehmen, da völkerrechtlich als Neutraler rechtlich nicht vereinbar. Denn was hat sich völkerrechtlich zu 1999 betreffend der Pflichten eines Neutralen verändert, als Österreich nicht UN-mandatierte Überflüge der NATO in Richtung Serbien verboten hatte? Nach internationalem Völkerrecht nichts, nur dass Österreich freiwillig (!) zugestimmt hat, derlei auch nur mit EU-Mandat zu gestatten. Selbst die „Notbremse“ sich bei der Entschlussfassung im Europäischen Rat konstruktiv zu enthalten, nicht teilzunehmen – und daher auch seine Truppen nicht zu entsenden, die dann natürlich fehlen würden – würde trotzdem bedeuten, sich konstruktiv zu verhalten und beispielsweise Überflüge anderer Teilnehmer Richtung Kriegsschauplatz gestatten zu müssen. Was hat das noch mit Neutralität zu tun?


Verschmelzung US, NATO und EU-Flagge
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Österreichs Neutralität – weder Fisch noch Fleisch


Dieses schleichende Auswaschen der Neutralität wird von namhaften Rechtswissenschaftlern wie Peter Hilpold sowie Walter Obwexer von der Universität Innsbruck, Erika De Wet vom Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen an der Universität Graz, oder auch Ralph Janik, Internationales Recht, von der Sigmund Freud Privatuniversität Wien, seit langem kritisch als Gratwanderung im Graubereich betrachtet.[13] Nach Ansicht des Verfassungsexperten Heinz Mayer in einer Stellungnahme aus 2001[14] existiert die immerwährende Neutralität nicht mehr. Mayer „empfiehlt, das Neutralitätsgesetz zur Gänze zu beseitigen und im Rahmen der EU an einer gemeinsamen sicherheitspolitischen Linie mit zu arbeiten.“[15] Er erwartet sich auch von der Politik die Bevölkerung aufzuklären „und reklamierte eine offene, ehrliche Diskussion fernab der Parteipolitik".[16] Auch der Verfassungsjurist Theo Öhlinger sieht Österreich bereits aufgrund des EU-Beitritts 1995 mit der kundgemachten aktiven Mitwirkung an einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte, nicht mehr neutral, sondern allemal bündnisfrei.[17] Ebenso argumentiert der auf Internationales und Europa-Recht spezialisierte Karl Zemanek hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Ermächtigung zur Teilnahme an Kampfeinsätzen.[18]


Nach Ansicht des Verfassungsexperten Heinz Mayer in einer Stellungnahme aus 2001 existiert die immerwährende Neutralität nicht mehr.

Dies ist insbesondere völkerrechtlich betreffs Neutralität bedenklich, da Österreich das UN-Gewaltmonopol im Artikel 23j B-VG dem EU-Vertrag von Lissabon folgend 2010 durch ein EU-Mandat ersetzt und somit unberechenbar und unglaubwürdig gegenüber Dritten wird. Der Brisanz wegen wird der Artikel 23j B-VG hier wiedergegeben, Anmerkungen des Autors in Klammer[19]:


„Artikel 23j. (1) Österreich wirkt an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union auf Grund des Titels V Kapitel 1 und 2 des Vertrags über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon mit, der in Art. 3 Abs. 5 und in Art. 21 Abs. 1 insbesondere die Wahrung beziehungsweise Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen vorsieht [quasi berücksichtigt, aber nicht zwingend ein UN-Mandat verlangt]. Dies schließt die Mitwirkung an Aufgaben gemäß Art. 43 Abs. 1 [Petersberger Aufgaben inkl. Kampfeinsätze] dieses Vertrags sowie an Maßnahmen ein, mit denen die Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zu einem oder mehreren Drittländern ausgesetzt, eingeschränkt oder vollständig eingestellt werden [Sanktionen und Embargos auch ohne UN-Mandat]. Auf Beschlüsse des Europäischen Rates über eine gemeinsame Verteidigung ist Art. 50 Abs. 4 sinngemäß anzuwenden.


(2) Für Beschlüsse im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union auf Grund des Titels V Kapitel 2 des Vertrags über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon gilt Art. 23e Abs. 3 sinngemäß.


(3) Bei Beschlüssen über die Einleitung einer Mission außerhalb der Europäischen Union, die Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens oder Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten umfasst, sowie bei Beschlüssen gemäß Art. 42 Abs. 2 [Verteidigungspolitik und gemeinsame Verteidigung] des Vertrags über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon betreffend die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik [eben nicht nur Verteidigungspolitik sondern auch gemeinsame Verteidigung] ist das Stimmrecht im Einvernehmen zwischen dem Bundeskanzler und dem für auswärtige Angelegenheiten zuständigen Bundesminister auszuüben [erfordert einstimmigen Beschluss im Europäischen Rat – konstruktive Enthaltung möglich, jedoch Duldung aller Maßnahmen].


(4) Eine Zustimmung zu Maßnahmen gemäß Abs. 3 darf, wenn der zu fassende Beschluss eine Verpflichtung Österreichs zur Entsendung von Einheiten oder einzelnen Personen bewirken würde, nur unter dem Vorbehalt gegeben werden, dass es diesbezüglich noch der Durchführung des für die Entsendung von Einheiten oder einzelnen Personen in das Ausland verfassungsrechtlich vorgesehenen Verfahrens bedarf [Hinweis auf KSE-BVG[20]].“


Österreich befindet sich somit permanent im Dilemma – entweder partizipiert es im Anlassfall bei etwaigen Kampfeinsätzen ohne UN-Mandat oder hat bei konstruktiver Enthaltung alle Maßnahmen völkerrechtswidrig zu erdulden.

Österreich befindet sich somit permanent im Dilemma – entweder partizipiert es im Anlassfall bei etwaigen Kampfeinsätzen ohne UN-Mandat oder hat bei konstruktiver Enthaltung alle Maßnahmen völkerrechtswidrig zu erdulden. Die sogenannte „Irische Klausel“ ist nämlich trügerisch, verpflichtet sie doch Österreich, wie bereits oben beispielhaft ausgeführt, nach Theo Öhlinger „trotzdem bei dem gesamten Prozess zu einer loyalen Kooperation.“[21]

Verwirrspiel nach Innen und Außen


Österreich ist demnach bündnisfrei statt immerwährend neutral. Inzwischen ist die EU mit Beistandspflicht und einen Beschluss im Europäischen Rat von der gemeinsamen Verteidigung längst den Schritt Richtung militärisches Bündnis gegangen. Dennoch wurde der Gedanke der Bündnisfreiheit aufgegriffen, in der „Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin 2001“ verankert und mit den Stimmen der beiden damaligen Regierungsparteien ÖVP und FPÖ im Nationalrat beschlossen.[22] So findet sich unter der Überschrift „Österreichs Weg von der Neutralität zur Solidarität“:


„Eine Relativierung des klassischen Neutralitätsverständnisses setzte bereits mit dem Beitritt Österreichs zu den Vereinten Nationen ein. Eine wesentliche Weiterentwicklung der Neutralität hat mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union stattgefunden. Österreich ist so wie Finnland und Schweden bündnisfrei. Das Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs kann aber nur vom Verfassungsgesetzgeber geändert werden. Ob Österreich in der Folge bündnisfrei bleiben oder einem Verteidigungsbündnis beitreten möchte, bleibt dann einer weiteren Entscheidung vorbehalten.“[23]


Diese notwendige Zweidrittelverfassungsmehrheit war nicht gegeben, da die Opposition (SPÖ, Grüne) nicht mitstimmte. Dieser regierungsseitig sehr realistischen Betrachtung des eigentlichen Status „bündnisfrei“ folgte allerdings am 21. März 2003 die Wiederauferstehung der Neutralität im Zusammenhang mit der Irakkrise; der Neutralitätsfall wurde erklärt.[24] Als Lösungsansatz zur Erläuterung der nicht ganz durchsichtigen Politik Österreichs wurde die „Solidaritätsdoktrin“ entwickelt. So erläuterte der damalige Bundeskanzler Schüssel diese in einem ORF-Interview, Österreich handelt „innerhalb der EU solidarisch und außerhalb der EU neutral.“[25] Dazu wären zwei Punkte anzumerken: wie wird selektive Neutralität wahrgenommen? Und würde nicht die „Solidarität“ nach Außen den Aufgabenbereich der Petersberger Aufgaben (Artikel 43, Abs. 1 EUV) betreffen? Wie soll dann die Neutralität beispielsweise bei einem Kampfeinsatz ohne UN-Mandat gewahrt bleiben? Solidarität wäre natürlich im Rahmen der EU-Verteidigung sinnvoll, aber warum dann überhaupt noch neutral?


So erläuterte der damalige Bundeskanzler Schüssel diese in einem ORF-Interview, Österreich handelt „innerhalb der EU solidarisch und außerhalb der EU neutral.“

Einen gewaltigen Spagat legt dann die Bundesregierung (SPÖ, ÖVP) mit der aktuell noch gültigen Österreichischen Sicherheitsstrategie 2011[26] hin, die von der Bundesregierung am 1. März 2011 zustimmend zur Kenntnis genommen und über 2 Jahre später (!) am 3. Juli 2013 im Nationalrat mehrheitlich (mit den Stimmen von SPÖ, ÖVP, FPÖ und Team Stronach) angenommen wurde. Die Wiederbelebung der Neutralität und deren Betonung schlägt durch, von bündnis- oder allianzfrei keine Rede mehr. So stechen hier auch von Experten[27] kritisierte widersprüchliche Aussagen ins Auge, wie

  • „Solidarische Sicherheitspolitik trägt dem Umstand Rechnung, dass die Sicherheit des neutralen Österreichs und der EU heute weitestgehend miteinander verbunden sind.“[28]

  • „Österreich ist ein demokratischer Rechtsstaat mit einem hohen Standard an Grundrechten und auf der verfassungsrechtlichen Grundlage seiner immerwährenden Neutralität Mitglied der EU. Österreich ist auch aktives Mitglied in anderen sicherheitspolitisch relevanten internationalen Organisationen.“[29]

  • „Die EU als umfassende Friedens-, Sicherheits- und Solidargemeinschaft bildet den zentralen Handlungsrahmen für die österreichische Sicherheitspolitik. Österreich wird sich an der Sicherheitspolitik der EU in allen ihren Dimensionen beteiligen.“[30]

  • „Österreich wird als Mitglied der EU die GASP aktiv mitgestalten und sich im Rahmen seiner Kapazitäten weiter am gesamten Spektrum der im EUV genannten Arten von GSVP-Aktivitäten, einschließlich der Battlegroups, beteiligen. An den Diskussionen zur Planung, Gestaltung und Weiterentwicklung der GSVP wird Österreich aktiv teilnehmen sowie Mitwirkungsmöglichkeiten rechtzeitig bewerten und sicherstellen. Dies gilt auch für die Bestimmung des Lissabonner Vertrages über die gemeinsame Verteidigungspolitik, die zu einer Gemeinsamen Verteidigung führen kann.“[31]

  • „Aktives Auftreten Österreichs als Vermittler in internationalen Konflikten und Wahrnehmung einschlägiger Vermittlungs- und Mediationsmöglichkeiten, die sich aus der Stellung Österreichs als EU-Mitglied und zugleich neutraler Staat ergeben.“[32]

  • „Aktive und solidarische Mitwirkung an der GSVP, am Aufbau der erforderlichen europäischen zivilen und militärischen Krisenmanagementkapazitäten in spezialisierter Form und der Fähigkeit zu autonomer sicherheitspolitischer Handlungsfähigkeit der EU.“[33]

  • „Darüber hinaus müssen die Fähigkeiten des ÖBH auch für einen möglichen Solidarbeitrag im Rahmen einer sich allfällig entwickelnden europäischen Verteidigung unter Berücksichtigung der sogenannten Irischen Klausel erhalten und gestaltet werden.“[34]

Was hat sich an der geostrategischen Lage Österreichs verändert, dass der Schwenk von einer Bündnisfreiheit wieder zur Neutralität bei gleichzeitiger aktiver Mitarbeit an der GSVP stattgefunden hat? Noch zehn Jahre vorher wurde festgehalten: "Österreich hat spätestens durch seine vorbehaltlose Mitwirkung an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU seinen völkerrechtlichen Status der dauernden Neutralität nachhaltig verändert. Im internationalen Vergleich entspricht der völkerrechtliche Status Österreichs damit nicht dem eines dauernd neutralen, sondern eines allianzfreien Staates."[35] Partner und Staatsvolk können hier nicht mehr folgen.

Österreich hat spätestens durch seine vorbehaltlose Mitwirkung an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU seinen völkerrechtlichen Status der dauernden Neutralität nachhaltig verändert.

Wehrwille, Neutralität und Zusammenarbeit


Wie steht es mit der Bereitschaft der Bevölkerung Österreich und die Neutralität zu verteidigen? Eine Gallup-Umfrage[36] im Jahre 2015 sieht diese Bereitschaft für das eigene Land zu kämpfen in Österreich bei 21%, Deutschland bei 18%, Schweiz 39%, Lettland 41%, Polen 47%, Schweden 55%, Ukraine 62% sowie Finnland 74%. Generell ist die Bereitschaft das eigene Land mit der Waffe zu verteidigen in West- und Mitteleuropa nur bei 25%. Der Zürcher Politologe Thomas Schäubli erklärt den Trend so: „Wenn die Bürger eines Landes an die rechtsstaatliche oder demokratische Lösung von Konflikten gewöhnt sind, sind sie wohl weniger dazu bereit, zu den Waffen zu greifen.“[37] Diese Tendenz scheint seit 24. Februar 2022 in Europa nicht unbedingt zum Vorteil zu gereichen.


Noch deutlicher ist aber die Diskrepanz zwischen der Bereitschaft selbst etwas für die Sicherheit seiner Heimat zu tun, anderen dabei zu helfen oder den Kampf für die eigene Sicherheit durch andere erledigen zu lassen, wie in einer repräsentativen Umfrage 2020 ersichtlich geworden[38]:

  • Knapp 29% der Befragten wären bereit, Österreich im Anlassfall militärisch zu verteidigen.

  • Wenn ein anderer EU-Staat militärisch angegriffen wird, meinen 30%, dass Österreich trotz Neutralität militärisch unterstützen soll, jedoch

  • wenn Österreich selbst militärisch angegriffen wird, meinen 73% (!), dass andere EU-Mitgliedstaaten Österreich militärisch unterstützen sollen.

  • Bei 61% der Befragten findet die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU Zustimmung, jedoch

  • 78% befürworten die Neutralität!

  • Nur 23% zeigen Interesse für Verteidigungspolitik.


Bei 61% der Befragten findet die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU Zustimmung, jedoch 78% befürworten die Neutralität!

Frappant wird der Gegensatz in einer repräsentativen Umfrage der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) im März 2022 ersichtlich:[39]

  • 91% der Befragten ist die Neutralität sehr wichtig bis eher wichtig;

  • gleichzeitig jedoch, und vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, treten 2 von 3 Österreicherinnen und Österreichern für mehr Kooperation in Fragen der Sicherheit und Verteidigung ein!


2 von 3 Österreicherinnen und Österreichern treten für mehr Kooperation in Fragen der Sicherheit und Verteidigung ein.

Eine Umfrage des Linzer Market-Instituts im Jahre 2011 hat ergeben, dass zwar 53% für eine engere Kooperation mit anderen Streitkräften sind, aber gleichzeitig 70% an der Neutralität festhalten, 50% sehen diese aber im Wandel und in 10-15 Jahren „werde Österreich kein neutrales Land mehr sein.“[40] Diese Studie hat auch ergeben, „dass sachliche Widersprüche bei dieser Auswahl den Befragten nicht einmal bewusst werden.“[41]


Diese massiven Gegensätze zeigen ein klägliches Bild vom Verständnis politischer Zusammenhänge, in dem der Mythos der Neutralität als Grundstein für den eigenen Wohlstand gesehen wird. Die politische Führung Österreichs der letzten Jahrzehnte war nicht engagiert die Geistige Landesverteidigung umzusetzen, weder für eine wahre Neutralität nach dem Vorbild der Schweiz, noch für eine wahre Solidarität im Rahmen der EU.


Sie ist den Weg des geringsten Widerstandes gegangen, um die Mär „Neutralität schützt per se“ aufrecht erhalten zu können. Sie verweigert sich der sachlichen Diskussion. Andersdenkende haben „auf Grund der großen Zustimmung zur Neutralität in der Bevölkerung ihre Linie aber wieder geändert.“[42] In einer vernetzten, voneinander abhängigen Welt, gerade in Europa, wird die Neutralität Österreichs als probates Mittel gesehen sich aus bewaffneten Konflikten herauszuhalten, im Irrglauben dadurch nicht in diese verwickelt zu werden. „Gute Dienste“ als Vermittler finden bis auf wenige Ausnahmen längst andernorts statt und das Engagement in der europäischen Verteidigungspolitik besteht auf der „nehmenden Seite“. Den Solidaritätsbeitrag durch die (blau-)behelmte Kopfzahl für Auslandseinsätze, gemessen im Verhältnis zur Größe des Landes, mit anderen Staaten fingerzeigend vergleichen zu wollen, ist irreführend. Nicht jeder Einsatz nach Chapter VII der UN-Charta ist gleichwertig und Kopfzahlen spiegeln nicht die benötigten Fähigkeiten wider. Denn war ein Kampfeinsatz in Afghanistan mit einer inzwischen friedenssichernden Mission im Libanon zu vergleichen, High-Value-Assets wie Schiffe oder Kampfflugzeuge mit reinen Kopfzahlen der „Linieninfanterie“? Wer aufgrund seiner Neutralität nicht bereit ist für andere Bündnis-Mitglieder zu kämpfen, der sollte derlei Vergleiche tunlichst unterlassen.

Mögliche Entwicklung der Sicherheitsarchitektur in Europa


Die militärische Verteidigung Europas liegt derzeit in den Händen der NATO. Die EU mit ihren Mitgliedstaaten ergänzt diese. Es ist auf lange Sicht keine ernstzunehmende Tendenz zur Aufstellung einer EU-Armee erkennbar. Diese gemeinsame Armee gibt es übrigens auch in der NATO nicht. Sie ist auch nicht erforderlich, da eine enge Kooperation mit gemeinsamen Führungsstrukturen als ausreichend gilt. Mitglieder hätten nur nationale Verbände hiezu zu designieren. Die bereits laufenden engen Abstimmungen zwischen EU und NATO sind weiter zu forcieren, ebenso die Kooperation innerhalb der EU, wie gemeinsames Beschaffen und Betreiben von Gerät und Fähigkeiten, Standardisierung und Zertifizierung im Einklang mit der NATO zur Erzielung der Interoperabilität und Förderung von Rüstungskooperationen.


Inwieweit ein eigenständiger Arm einer Verteidigungsunion durch Mitgliedstaaten der EU auf die Beine kommt, ist abhängig von deren Willen. Aus heutiger Sicht ist unwahrscheinlich, dass EU-Mitglieder, die gleichzeitig NATO-Mitglieder sind, diese Duplizität fördern. Die Vision, dass die EU als selbständige Verteidigungsunion mit all ihren Mitgliedern mit der „Rest-NATO“ außerhalb der EU dort kooperiert, wo es noch gemeinsame Interessen gibt, ist gegenwärtig Fiktion. Wo diese Kooperation und prioritäre Abstimmung bereits zu funktionieren scheint ist im Bereich der „Out of Area“ Einsätze. Auch hier erfordert es weiterhin klare Prioritätensetzung und Kommunikation bezüglich strategischer Interessensbereiche.


Die Vision, dass die EU als selbständige Verteidigungsunion mit all ihren Mitgliedern mit der „Rest-NATO“ außerhalb der EU dort kooperiert, wo es noch gemeinsame Interessen gibt, ist gegenwärtig Fiktion.

Der Bedarf an Neutralen und ihren „Guten Diensten“ scheint sich gerade in Europa jedenfalls in Grenzen zu halten. Vielmehr entsteht der Eindruck der Selbstüberschätzung. Auch ist der Erfolg nur mäßig sichtbar. Der Umkehrschluss, dass Neutralität per se vor Krieg schützt, ist jedenfalls Selbstbetrug. Vielmehr ist statt „Trittbrettfahren“ echte – auch militärische – Solidarität gefordert, um die Verteidigung der Wertegesellschaft des Westens nicht nur als Lippenbekenntnis zu verstehen und anderen zu überlassen.


Schlachtfeld Europa ohne Koordinierung
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Quo vadis Austria?


War noch 1955 die Neutralität erstens als Mittel zum Zweck in die Freiheit und Unabhängigkeit sowie, zweitens, zwischen den Blöcken als Basis der „guten Dienste“ sinnvoll, so hat sich nach dem EU-Beitritt, situiert inmitten sicherer Staaten, die Lage grundlegend geändert. Das Argument, dass neutrale Staaten als Vermittler in Konflikten mit „guten Diensten“ begehrt sind, hat sich widerlegt. Denn gerade die Zugehörigkeit zur EU, das Mittragen der GASP im Konflikt Ukraine-Russische Föderation, hat bewirkt, dass Österreich auch auf der Liste unfreundlicher Staaten gereiht ist. Verhandlungen finden woanders statt, eine erfolgreiche (!) aktive Neutralitätspolitik oder Vermittlerdienste konnten nicht erkannt werden.


Auch das Argument, wonach der Beitritt zu einem Militärbündnis zu teuer sei, ist an und für sich widersinnig, da gerade ein neutraler Staat mehr in seine Wehrhaftigkeit zu investieren hätte, da er sich den Herausforderungen der Zeit selbstgewählt alleine stellt. Finanziell leistbar sollte es für einen Staat, der wirtschaftlich mit kaufkraftbereinigten BIP als Nummer 17 unter den Top 20 weltweit aufscheint, allemal sein.[43]