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Digitale „Souveränität“?

Abstract: Digitale Souveränität ohne ein Verständnis von Souveränität ist ein Haus ohne Fundament. Souveränität verbindet eine performative und eine legitimatorische Komponente: Gewaltmittel und Rechtmäßigkeit. Die Gewaltmittel wurden um ökonomische, diplomatische, nachrichtendienstliche erweitert; ihr Einsatz bestimmte sich nach Interessen und Legitimation. Den ökonomischen Mitteln kommt eine besondere Rolle zu, da sie eine irreversible Evolution der Souveränität initiierten: Die Ökonomie integriert private, also nicht-staatlichen Akteure wie Unternehmen und Konsumenten, in die Souveränität. Die maritim induzierte Globalisierung schuf die ökonomischen und infrastrukturellen Voraussetzungen der Digitalisierung und Cyber.

Bottom-line-up-front: Kämpfe um Souveränität sind nach innen hin Kämpfe um die Gewaltmittel, nach außen hin mit den Gewaltmitteln. In einer Digitalen Welt übersteigen sie die klassische Dichotomie von Polizei-Militär und reichen tief hinein in private Anlagen und private Akteure. Sie werden zum konstitutiven Bestandteil der Digitalen Souveränität und – Strategie. Das Konzept der Souveränität muss erweitert –und vielleicht sogar „digitalisiert“ – werden.

Problemdarstellung: Wie muss digitale Souveränität im Lichte klassischer Souveränitätstheorien neu verstanden werden?

Was nun?: Die passive Verflechtung von privatwirtschaftlichen und Staatlichen Institutionen bedarf eines neuen Ordnungsrahmens in der Größenordnung der DSGVO mit umgekehrten Vorzeichen: progressiv, vernetzt und nach außen gerichtet. Ansätze sind die staatliche Nutzung von software-off-the-shelf, die normative und strukturelle Verflechtung von privaten und staatlichen Sicherheitsbehörden sowie die gemeinsame Ausbildung und Durchlässigkeit zwischen diesen Feldern.

Source: shutterstock.com/TOPIC SENTENCES

We’ve lost a War…

„We’ve lost the war“ – mit dieser Kernaussage identifizierten Frank Rieger und Rop Gonggrijp als Sprecher des Chaos Computer Clubs 2006 den Wandel des freiheitlich-anarchischen Internet zur Cyber-Domäne. Statt Friedensdividende und dem Ende der Geschichte als Abfolge von war ein Spielfeld souveränen Machtkampfes geworden. Die technischen Innovationen öffneten einen neuen Raum, eine allein technisch zugängliche und von Staaten weitgehend unbesetzte Dimension. Entsprechend allergisch reagierten die indigenen Einwohner dieses Feldes, die Hacker und Nerds, als die Staaten das Feld „Cyber“ tauften und die digitale Kavallerie entsandten.

15 Jahre später ist die Rede der digitalen Souveränität hoch im Kurs. Die europäische Öffentlichkeit zelebriert so ihren Siegeszustand nach dem Kalten Krieg: Man feiert auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Demut und Weitsicht sind Siegern fremd. Doch was genau ist Souveränität und was kann digitale Souveränität sein?

Souveränität ist eine Haltung, die eine Handlung begründet. Die Theorie der Souveränität ist entsprechend eine Handlungstheorie. Mit ihr erfolgt die Zwecksetzung, aus dem sich konkret messbare Ziele ableiten, um diese dann mit Mitteln zu hinterlegen und umzusetzen.

Zeitgemäße Souveränitätsbestimmungen sind beispielsweise „America first“ oder „China 2050“. Und Europa? Hier ähnelt die Souveränität einer Wünsch-Dir-Was-Theologie, in der Schlagerlyrik auf den Punkt gebracht: „Ein bisschen Frieden / Ein bisschen Träumen / Und dass die Menschen nicht so oft weinen“.

Das färbt vor allem auf die digitale Souveränität ab, die eine nahezu beliebige Projektion von Konzepten und Begriffen bildet. Als medialer Liebling umfasst sie Datenschutz, Abwehr der Vorratsdatenspeicherung und ‚digitale Selbstverteidigung‘ – also grundsätzlich innenpolitische Verhältnisse.[1] Besonderer Ausdruck dieser Allmachtsfantasien der digitalen Abwehr präsentieren europäische Datenschützer, beispielsweise in Form einer sakral aufgeladenen Stilistik „Zehn Gründe, warum Schulen US-Videokonferenzsysteme und andere US-Software-Produkte nicht verwenden sollten“[2]. Zusammengefasst: Du sollst keine amerikanischen Produkte nutzen. Es ist leider ein gutes Beispiel der europäischen Methode auf die Digitalisierung: Regulatorisch nach innen gerichteter Verbotscharakter mit Aufforderung zur Unterlassung.[3] Oder mit den Worten von Eric Gujer: Die USA haben das Silicon Valley, die EU hat die DSGVO.

Europa möchte mit den USA und China gleichziehen. So erklärt die deutsche Bundesregierung am 27. Januar 2021 digitaler Vorreiter[4] werden zu wollen, wie auch schon 2020 bei der Künstlichen Intelligenz[5]. Ambitionen wie GAIA-X oder die KI-Forschung[6] zeichnen sich aber durch ein Missverhältnis von Wunsch und Wirklichkeit aus. Die Diskrepanz liegt nicht nur in den Budgets, sondern in den Rahmenbedingungen selbst: Künstliche Intelligenz lebt von Daten, Vernetzung und Konnektivität – kurz Digitalisierung. Hierbei aber scheinen, so konstatiert nüchtern-brutal die Analyse des Ministeriums für Wirtschaft und Energie, die „verschiedene[n] Formen von „Organisationsversagen“ zu dominieren“.[7]

Die fehlende Praxis und Theorie digitaler Souveränität sind gleichermaßen problematisch: Ohne ein theoretisches Konzept bleibt das praktische Handeln erratisch und verhakt sich in Widersprüchen und Investitionsleichen. Ohne den praktischen Anspruch souveränen Handelns werden und können keine ernstzunehmenden Ambitionen entwickelt, global als souverän wahrgenommen und behandelt werden.

Begriff und Verständnis der Souveränität

Souveränität gehört zu den grundlegenden Begriffen der Staatstheorie und -philosophie. Für das Verständnis ist ein Brückenschlag zur Theologie zwingend, da sie, wie alle wesentlichen Begriffe der Staatstheorie, ein säkularisierter theologischer Begriff ist.[8] Das Konzept der Souveränität ruht auf dem Konzept unbegrenzter Macht als Gottesvorstellung. Ihre Stellvertreter auf Erden als vicarius dei leiteten davon das Selbstverständnis und die Legitimation des Adels ab. Mit dem berüchtigten Weltgeist zu Pferde wurde das göttliche Herrschaftsprivileg säkularisiert und ging in der Person von Napoleon auf die institutionalisierte Bürgerlichkeit über. Nach der Französischen Revolution nicht länger gottgegeben, legitimierten Wahlen das Staatsoberhaupt als temporären Träger aller weltlicher Macht und Gewalt in Form des Gewaltmonopols des Staates. Lin Manuel Miranda legte diese Verblüffung über diese Entwicklung Georg III., König von England, in den Mund:

George Washington’s yielding his power and stepping away

‘Zat true?!

I wasn’t aware that was something a person could do

I’m perplexed!

Are they gonna keep on replacing whoever’s in charge?

If so, who’s next?”[9]

Die Souveränität wandelte sich von der göttlichen Macht über die adeligen Stellvertreter, zur legitimatorischen Usurpation Napoleons und Washingtons zur aufklärerischen Legitimation hin zur Souveränität des Volkes. Hans Kelsen entwickelte dafür in den 1920er Jahren die nationalen und internationalen Rechtskonzepte einer Volkssouveränität.[10]

Damit diffundierte die theoretische Souveränität vollständig von der Höhe in die Breite. Mit Blick auf die Schrecknisse vererbter oder charismatischer Herrschaft erscheint das als bestmöglicher zivilisatorischer Fortschritt, wie Donald Trump mit seiner Amtszeit in Erinnerung rief. Diese fortschrittliche und systematische Diffusion der Souveränität hat Konsequenzen: Wir wissen nicht mehr so recht, was Souveränität genau meint. Das ursprüngliche Konzept büßte in dem Maße an Schärfe ein, wie der gesellschaftlich-zivilisatorische Fortschritt die Gewaltenteilung etablierte. Das ist die gesamte Pointe der Gewaltenteilung: Eine Souveränität im ursprünglichen theologischen und klassischen Sinne zu verhindern.

Dennoch wirft das alte Verständnis der Souveränität weiterhin einen langen Schatten, so dass Theorie und Praxis nach wie vor von diesen Konzepten leben. Tatsächlich wurde die Souveränität durch die Konzepte der Machtprojektion von Seemächten global ausgedehnt. Umgekehrt wirken ökonomische Theorien wie ein Fremdkörper darin, auch wenn die Politische Ökonomie sich dem Themenkomplex nähert, aber selten zufriedenstellend zusammenführt.

Tatsächlich wurde die Souveränität durch die Konzepte der Machtprojektion von Seemächten global ausgedehnt.

Jenseits des theoretischen Konzeptes der Souveränität gilt schlichtweg die Praxis: „Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“ – also die Fähigkeit, anderen seinen Willen aufzuzwingen: Die Handlungsmöglichkeiten eines Anderen „auf Null zu setzen“[11] und die Akzeptanz eines fremden Willens zu erzwingen. Dessen absolute Form ist ebenfalls sehr praktisch: Die bedingungslose Kapitulation. Eine andere ultima ratio sind Nuklearwaffen und die zugehörigen Konzepte der Abschreckung. Mit ihnen wird auch das gesellschaftliche Mitspracherecht innerhalb der Souveränität klar formuliert: Wem schulden die Gewaltmittel Gehorsam und Loyalität?

Wer ist souverän?

Souveränität hat zwei Komponenten: Eine legitimatorische und eine performative. Nach innen hin ist es die Rechtmäßigkeit, das Recht zu setzen und durchzusetzen. Nach außen die Anerkennung durch andere Staaten und die Fähigkeiten, eigene Grenzen und Interessen zu durchzusetzen. Mit anderen Worten: Verhindern, dass ein fremder Wille von außen aufgezwungen wird. Das verbindet Carl von Clausewitz nach außen und Max Weber nach innen.[12] Die Mittel hierfür waren in erster Linie Gewaltmittel, nunmehr die gesamten Mittel eines Staates.

Die globale Reichweite dieser souveränen Mittel brachte Bill Clinton als US-Präsident auf den Punkt: „When word of crisis breaks out in Washington, it’s no accident the first question that comes to everyone’s lips is: where is the nearest carrier?“

Source: http://collections.museumca.org/?q=collection-item/2010549222

Was PragmatikerInnen intuitiv klar war, ist für JuristInnen und VölkerrechtlerInnen ein schwer zu ertragender Zirkelschluss: Souverän ist, wer souverän ist. Sie ist Voraussetzung und Folge zugleich. In die Praxis übersetzt handelt es sich um eine Prozessbeschreibung: Souverän ist, wer die Souveränität herstellt, durchsetzt und aufrechterhält. Die Legitimität ist dabei häufig eine Folge der Performanz, eine Praxis, die für rein ethisch basierte Haltungen schwer erträglich scheint. Die Souveränität drückt sich notwendigerweise in den Gewaltmitteln aus. Kämpfe um Souveränität sind nach innen hin Kämpfe um die Gewaltmittel, nach außen hin mit den Gewaltmitteln.

Die Legitimität ist dabei häufig eine Folge der Performanz, eine Praxis, die für rein ethisch basierte Haltungen schwer erträglich scheint. Die Souveränität drückt sich notwendigerweise in den Gewaltmitteln aus.

Hier nehmen Nuklearwaffen eine besondere Rolle ein, da ihre primäre Funktion in der Abschreckung liegt, also im Erhalt der eigenen Handlungsfreiheit. Sie sind der ultimative Ausdruck von performativer Souveränität. Die Beharrlichkeit, mit der Nordkorea und Iran trotz massiven Widerstands, an ihren Nuklearprogrammen festhalten, machen ihre Bedeutung messbar. Sie folgen dem Vorbild Chinas, wie 1967 Tom Lehrer präzise beobachtete:

“A few weeks ago, the American press reported, that China had exploded a nuclear bomb. That was a great leap forward for China, but it was an even greater leap forward for the American press. Because for the first time they called it China instead of Red China. For 18 years they’ve been hoping, it would just go away. And for the first time they called it a bomb, instead of a device.”[13]

Das hat nichts an Aktualität eingebüßt:[14]

Source: twitter.com/@CarloMasala1

Die europäische Haltung jedoch tendiert stark zur legitimatorischen Souveränität und vernachlässigt die performative Komponente. Der Begriff der „Nachkriegsordnung“ drückt das präzise aus und lebt von der Arbeitsteilung: die europäischen Nationen beschränken sich auf die legitimatorische Komponente und überlassen die performative den Amerikanern und ordnen damit ihre eigenen Gestaltungsansprüche folgerichtig den USA unter. Diese fordert dafür eine Beteiligung in Höhe von 2% ein, was Josef Braml nicht ganz falsch als „Schutzgeld“ oder „Tribut“ bezeichnete.[15]

Die Fähigkeit in Ruhe gelassen zu werden definiert dann auch Resilienz: Der Wirkung eines fremden Willens zu widerstehen. Das ist eine der deutschen Grundhoffnungen an digitale Souveränität, vermutlich an Souveränität überhaupt. Sie ist der Verzicht auf Handlung nach außen, bedeutet aber die Aufgabe aktiver Gestaltung und überlässt anderen Souveränen die Weltbühne. Nicht nur Russland und China haben das erkannt und nutzen aktiv den offen gewordenen Handlungsspielraum auf immer neuen Schauplätzen. Unweigerlich provozieren sie so den zweiten Bestandteil der Souveränität: die performative Komponente.

Bei den westlichen Souveränen lässt sich eine Ausweichbewegung beobachten, sie suchen nach Alternativen zu den Gewaltmitteln. Vor dem Hintergrund der Vernichtungswaffen des Zweiten Weltkrieges und der folgenden potenziellen nuklearen Auslöschung erwuchs in der Öffentlichkeit der moralische Imperativ der Gewaltfreiheit, der kaum Akzeptanz von systematischen Gewaltmitteln zulässt.

Das geht mit hohem Risiko einher. Wird alles zum Mittel wird, den eigenen Willen gegen andere durchzusetzen, qualifiziert man ebendiese vermeintlich besseren, nicht-gewalttätigen Mittel zur Zielscheibe für andere Mächte. Denn in ihrer Funktion als Mittel-zum-Zweck ähneln sie den Gewaltmitteln, gleichen sie in ihrer Funktion als Mittel-zum-Zweck doch den Gewaltmitteln. Mit anderen Worten: Ein Mittel definiert sich aus der Verbindung von Fähigkeit und Wille – wodurch es zur Waffe und gegen andere Souveränität gerichtet wird. Dieser Andere nutzt seinerseits zur Selbstbehauptung die ihm verfügbaren Mitteln, entweder um die gegnerische Mittel zu annullieren oder direkt auf das Center of Gravity zu zielen. Das können Gewaltmittel, hybride Strategien oder eben soft power sein – doch alle zusammen definieren sich durch ihre Wirkung die Möglichkeiten eines Gegners auf Null zu setzen. Das „Paradox of Protection“ treibt die Eskalation.[16] Kondensiert man die Zuspitzung auf eine Formel: Gegen Gewalt hilft nur Gewalt, gegen Militär nur Militär.[17] Die Einhegung des Krieges geht verloren.

Ein Mittel definiert sich aus der Verbindung von Fähigkeit und Wille – wodurch es zur Waffe und gegen andere Souveränität gerichtet wird. Dieser Andere nutzt seinerseits zur Selbstbehauptung die ihm verfügbaren Mitteln, entweder um die gegnerische Mittel zu annullieren oder direkt auf das Center of Gravity zu zielen.

Dieser Druck steigt mit jeder technologischen Innovation: Waren die Seekriegsmittel anfangs gegen andere (Kriegs-)Schiffe gerichtet, waren Blockaden die unmittelbare Konsequenz, aus der heraus schließlich Hafenstädte bombardiert wurden. Luftkriegsmittel entwickelten sich ebenfalls von taktischen Waffen gegen Luft- und Bodenkräfte zu strategischen Bombern, die ungehindert von Schützengräben ins Hinterland durchdringen und schließlich die Center of Gravity direkt bombardieren sollten.: „Die Bomber kommen durch!“[18] Parallelentwicklungen im Bereich der Flugabwehr und der paradoxerweise aus der Übermächtigkeit des Mittels entstehenden Resilienz in der Bevölkerung (Bunkersyndrom) verhinderten letztlich eine Bestätigung dieser These. Doch während der Luftkrieg anstelle von Okkupation, Beute, oder Handel ‚nur‘ Dominanz und Vernichtung hinzufügte, stieß die Eroberung der See eine irreversible Transformation der Souveränität an, die der Digitalisierung vorgreift.

Von den Langen Linien über die Gunboat Diplomacy bis zur Universalität

Der einschneidende Unterschied zwischen Land und Meer wirkte sich notwendigerweise auf die Souveränität aus, ungleich mehr als später die Domäne der Luft. Die „Freiheit des Meeres“ bedeutet: Grenzzäune sind unmöglich, es fehlen Häuser, Straßen und Befestigungen. Unmöglich ist es umfassend ein Grenzgebiet zu ziehen, innerhalb dessen ein spezifisches Recht durch die Polizei durchgesetzt wird. Auf dem Meer wohnen die Menschen nicht, sie sind dort nur zu Gast. Sie leben an Rändern des Meeres. Es bleibt fremd und unbewohnbar, mythisch. Es gehört niemandem und kann nicht in Besitz genommen werden. Befahren wird es nur, um Ressourcen zu transportieren oder zu ernten, um sie dann wieder ans Land zu bringen. Das Meer ist ein Ort, der durchquert oder temporär bewirtschaftet wird, es ist ein Medium.

Das Recht galt immer nur an dessen Rand. Die Konsequenz dieses herrschafts- und somit rechtsfreien Raumes waren Seeräuber, die unbeschwert von unmittelbaren Rechtsfolgen räuberten: Die Freiheit der Meere.[19] Um irgendein Recht innerhalb des Meeres zur Geltung zu bringen, muss es regelmäßig durchkreuzt werden, was die Aufgabe der Marine in Ergänzung zur Küstenwache definiert. Oder das Meer wird kultiviert– eine Strategie, die China im 21. Jahrhundert mit dem Ausbau künstlicher Inseln umsetzt.

Die Konzeption von „innen“ und „außen“ verdeutlich das, worauf Innen- und Außenpolitik baut. Das Meer ist „außen“, außerhalb des eigenen Rechtsgebietes. Für alle souveränen Willensakte braucht es eine Marine, eine sehr teure Angelegenheit. Chinas Geschichte als Seemacht endete 1455, als die chinesische Flotte nach der Umrundung Afrikas berichtete: Es gäbe nichts Gleichwertiges in Übersee, was eine Marine rechtfertigte. In der Folge wurden die Schiffe verbrannt und die Kosten gespart.[20]

Die großen Entdeckerfahrten waren ein Aufbruch durch die Meere, welche die Begrenzung des Landes hinter sich ließen und im Wortsinne global wurden. Sie waren ihrer Zeit, aber mehr noch waren sie dem Recht voraus. Die bestehende europäische Rechtsordnung war ebenso wie die Souveränitätskonzepte abhängig vom theologischen Gesamtrahmen der Pax Christania: Einem kulturellen und theologischen Gesamtrahmen innerhalb dessen die Allmacht Gottes auf ihre weltlichen Stellvertreter abgeleitet wurde. Die Einheit von moralischer und rechtlicher Ordnung verkörperte der Papst als Stellvertreter Christi auf Erden, der seinerseits Könige und Kaiser legitimierte.[21]

Die Exploration der Weltmeere und die Entdeckung der Neuen Welt brachte einen neuen Drall in die Sache: Man verließ die geordneten europäischen Rechtsrahmen der ‚Alten Welt‘ und stieß in den unbekannten Raum der Neuen Welt vor, für welche die geltenden Rechtsordnungen keine Aussage mehr trafen. Damit auch keine Wirkung erzeugen konnten. Dazwischen lagen Ozeane. Hier fehlte die Legitimation, der Ordnungs- und Rechtsrahmen führten zu Kämpfen zwischen Europäern, die auf dem alten Kontinent friedliche Nachbarn waren. In Europa friedliche Nachbarn bekämpften sich jenseits einer Friedenslinie in der Neuen Welt vom 16. bis in das 19. Jahrhundert.[22] Jenseits der Legitimation bestand Souveränität als reine Macht, exekutiert von mit Gewaltmitteln, wie beispielsweise die spanischen Eroberer in Südamerika. Die spanischen Theologenschule von Salamanca stellten dieses Vorgehen schon 1625 in Frage und schlossen auf ein globales Völkerrecht, indem sie den bestehenden Rechts- und Ordnungsrahmen global erweiterten.[23]

Das Muster wird erkennbar: Besteht ein gemeinsam anerkannter Ordnungsrahmen, werden die Gewaltmittel innerhalb dessen organisiert und legitimiert. Entweder mit offenen Flaggen oder klandestin, um die Störungen innerhalb dieser Ordnung klein zu halten. Fehlt der gemeinsam anerkannte Ordnungsrahmen besteht für die klandestine Vorgehensweise keine Notwendigkeit. Es wird gemacht, was möglich ist. Die Grenze ist der Vertragsstatus, der innerhalb des Vertragsgebietes die Geltung von Rechtssätzen diesseits der Grenze formuliert und fixiert; für die andere Seite der Grenze jedoch keine Aussage trifft. Wir sprechen von der Einhegung der Gewalt und Krieges.[24] Was diesseits des Meeres galt, galt nicht von allein auch jenseits dessen. Man musste es erzwingen. Die Ausweitung der Friedenslinie um den gesamten Globus folgte diesem Muster der Grenzausweitung und war die historische Folge. Diese Entwicklung war ein durch und durch blutiger Vorgang der Landnahme, der Eroberung und der erzwungenen Öffnung von Häfen.

Besteht ein gemeinsam anerkannter Ordnungsrahmen, werden die Gewaltmittel innerhalb dessen organisiert und legitimiert. Entweder mit offenen Flaggen oder klandestin, um die Störungen innerhalb dieser Ordnung klein zu halten. Fehlt der gemeinsam anerkannte Ordnungsrahmen besteht für die klandestine Vorgehensweise keine Notwendigkeit. Es wird gemacht, was möglich ist.

Barrierefreiheit stellt einen der wichtigsten Vorteile der eigentliche Charme der Wasserdomäne dar.[25] Was Alfred Thayer Mahan theoretisch fundierte, begründete praktisch das unsichtbare Imperium der USA über den gesamten Pazifik. Hier kehren sich die fehlenden Befestigungen ins Gegenteil um: Man muss niemanden um Erlaubnis fragen, um das Meer zu durchfahren. Die Freiheit der Meere erlaubt dem Handel ungestört von Zöllen und Grenzen Ressourcen über die ganze Welt zu transportieren. Die Räuber hingegen folgen der Beute auf die See. Im Gegensatz zur Lobpreist man zu Lande die Erfolge polizeilichen Grenzsicherung am Land standen den (See)räubern die mit Liedern wie dem bekannten: „Im Walde von Toulouse gibt’s keine Räuber mehr“, nutzen Seeräuber die offenen Weiten des Meeres. In der Freiheit der Meere sind sie nicht Subjekte dieses oder jenes Staates, sondern Private; „Privateers“ in einem rechtlich uneingehegten Raum. Ein bis heute aktuelles Thema, wie die EU Operation Atalanta mit der Frage, welches Recht überhaupt Anwendung findet, aufzeigt.[26] Der andere Vorteil der Privaten war abermals die Ökonomie: Was für Staaten als offizielle Gewaltmittel zu kostspielig war, schien für den Privatier oder Privatpersonen im Angesicht der lockenden Beute eine lohnende Unternehmung, von der dann auch die dahinterliegenden Staaten profitieren konnten. Es lag nahe, die Kaperfahrten zu privatisieren, lizensieren und mittels Kaperbriefen verrechtlichen. Nicht unvertraut, wenn man sich privat organisierte Cyber-Piraten beziehungsweise Hacker im staatlichen Auftrag vergegenwärtigt.

Die Seewege verkürzen effektiv Transportwege und schaffen überhaupt erst die mentalen und physikalischen Voraussetzungen für ein globales Verständnis. Was Großbritannien als globales Commonwealth begann, perfektionierten die USA, die jedoch – ganz anders als die Briten – ihr Seeimperium exzellent zu verbergen wussten.[27] Der Erfolg hing wesentlich von der Offenheit der Meere ab, noch mehr aber von der Offenheit der Häfen auf der anderen Seite des Meeres. Es musste also zumindest ein Minimum an gemeinsamen Rechtsvorstellungen erzeugt werden.

Abermals galt: „Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“ Die Handels- und Seemächte transportieren ihre Rechtsvorstellungen mit ihren Flotten: Von der europäischen Pax Christiana über die Landnahme der neuen Welt, über die Handelslinien hin zum Handelsrecht als global geltendes Universalrecht. Dieses Recht, eine Mischung von göttlicher Autorität, ökonomischer Macht und ihre Verwirklichung in Form großer Flotten mündete 1801 in der Bombardierung marokkanischer Häfen durch die noch junge US Navy und 1841 in die Bombardierung chinesischer Häfen durch englische Schiffe, um den Antagonisten westlichen Willen aufzuzwingen: Die Öffnung für globalen, ergo britischen Handel und deren Rechtsverständnis.[28] Was Mahan theoretisch analysierte, verwirklichte die Gunboat-Diplomatie und die Machtprojektion des 20. Jahrhunderts.[29] Höchstaktuell findet ebendiese Gunboat-Diplomacy mit der Entsendung europäischer Kriegsschiffe in den Ostpazifik ihre jüngste Aktualisierung mit dem Ziel, China den Willen der einstigen Pax Christiana in Form der UN Charta aufzuzwingen:

“All these countries deciding to step up their naval footprint in the Asia-Pacific region at the same time is driven to some extent by a desire to show a commitment to the US-led rules-based international order on which they, as Nato members, depend for their security.”[30]

Die Handels- und Seemächte transportieren ihre Rechtsvorstellungen mit ihren Flotten: Von der europäischen Pax Christiana über die Landnahme der neuen Welt, über die Handelslinien hin zum Handelsrecht als global geltendes Universalrecht.

Diese ideengeschichtliche Linie entspricht ganz dem aktuellen Auftrag und Verständnis der Marine Deutschlands:

„Ungehinderte Schifffahrt ist ein fundamentales strategisches Interesse nicht nur der Handelsnation Deutschland, sondern aller Länder. Denn Wohlstand entsteht nicht, ohne miteinander Handel zu treiben. Grundlage dafür ist ein freier und sicherer Seeverkehr.“ [31]

Die performative Voraussetzung für diese Universalität ist an Flotten, Handel und Ökonomie geknüpft, also einer global agierenden souveränen Macht mit globalen Machtmitteln. „Es muss sich lohnen” – eine ökonomische Kategorie also.

Die politische Ökonomie der mächtigen Flotten

Souveränitätstheorien leiden häufig an einer Sehschwäche für die ökonomischen Verhältnisse. Das überrascht wenig: Souveräne verdienen kein Geld – sie besteuern, leihen oder rauben. Schon immer holten sie sich Kredite, um kostspielige Kriege zu finanzieren.[32] Entsprechend seltener finden sich ökonomische Innovationen in der Souveränitätstheorie. Dabei gibt es ein Wechselspiel zwischen Souveränität, Verwaltung und Ökonomie, wie Friedrich Engels mit Hilfe seiner ausgiebigen Beschimpfungen gegenüber Eugen Dühring aufzeigte:

„Also der Revolver siegt über den Degen, und damit wird es doch wohl auch dem kindlichsten Axiomatiker begreiflich sein, dass die Gewalt kein blosser Willensakt ist, sondern sehr reale Vorbedingungen … erfordert, namentlich Werkzeuge, von denen das vollkommnere das unvollkommnere überwindet; dass ferner diese Werkzeuge produziert sein müssen, womit zugleich gesagt ist, dass der Produzent vollkommnerer Gewaltwerkzeuge, vulgo Waffen, den Produzenten der unvollkommeneren besiegt, und dass, mit Einem Wort, der Sieg der Gewalt beruht auf der Produktion von Waffen, und diese wieder auf der Produktion überhaupt, also – auf der „ökonomischen Macht“, auf der „Wirtschaftslage“, auf den der Gewalt zur Verfügung stehenden materiellen Mittel. […] Die Gewalt, das ist heutzutage die Armee und die Kriegsflotte und beide kosten, wie wir alle zu unsrem Schaden wissen, „heidenmäßig viel Geld“. […] Nichts ist abhängiger von ökonomischen Vorbedingungen als gerade Armee und Flotte. Bewaffnung, Zusammensetzung, Organisation, Taktik und Strategie hängen vor allem ab von der jedesmaligen Produktionsstufe und den Kommunikationen. Nicht die „freien Schöpfungen des Verstandes“ genialer Feldherren haben hier umwälzend gewirkt, sondern die Erfindung besserer Waffen und die Veränderung des Soldatenmaterials; der Einfluss der genialen Feldherren beschränkt sich im besten Fall darauf, die Kampfweise den neuen Waffen und Kämpfern anzupassen.“ [33]

Man erkennt leicht die konsequente Verwandtschaft zwischen dem See- und dem Handelsrecht, welches zum Universalrecht avancierte – unabhängig von den Landmächten. Als gegenwärtiges Beispiel kann im 21. Jahrhundert wohl die chinesische Initiative „One Belt, One Road“ gelten, eine Alternative zum Monopol auf See.

Gleichwohl Fragen der nationalen und globalen ökonomischen Ordnung seit dem 18. Jahrhundert intensiv als Nationalökonomie, Industrie-, Handels- und Wirtschaftspolitik diskutiert werden, blieben und bleiben die Diskurse über die Zusammenhänge von Legitimation, Ökonomie und Herrschaft doch merkwürdig zusammenhangslos.

Womöglich liegt das am Siegeszug der Politischen Ökonomie. Sie ist so sehr das Paradigma unserer Zeit geworden, dass sie wie selbstverständlich alle anderen Diskurse dominiert und wir sie kaum noch als solche wahrnehmen. Die Politische Ökonomie hat gewonnen, sie dominiert das politische Weltgeschehen von der großen Systemrivalität des 20. Jahrhunderts über die inflationäre, beliebige und ausdauernde Kritik am Kapitalismus bis hin zur Identifikation Chinas als systemic rival für die EU.[34]

Tatsächlich aber trägt ein zweiter, wenig berücksichtigter institutioneller Fortschritt zur Diffusion bei: Mit der Gründung der Bank of England und Bank of Stockholm wurde die Trennung von Ökonomie und Herrschaft in Form autarker Zentralbanken etabliert.[35] Die Sphäre des Privaten wurde, ähnlich wie auf dem Meer, institutionell gestärkt und war in der souveränen Gemengelage nicht mehr wegzudenken. Was heute leichtfertig als von Staaten autarke unkontrollierte Finanzsphäre verworfen wird, war eine bemerkenswerte Errungenschaft, welche die heutigen ökonomischen Leistungen erst ermöglichte. Die Autonomie der ökonomischen Sphäre definiert sich durch die Loslösung von der – so geschwächten – Souveränität. Die Unabhängigkeit der Zentralbanken materialisiert dies und gewährleistet Stabilität und Prosperität. Unterwirft die Souveränität die ökonomische Sphäre und macht sie erneuert abhängig, beobachtet man einen wirtschaftlichen Verfall wie gegenwärtig prominent bei der türkischen Zentralbank oder in Venezuela zu beobachten ist. Dennoch wirkt bis heute das Wirtschafts- und internationale Handelsrecht als theoretischer Fremdkörper und fristet mit seinen praktischen Institutionen ein Dasein jenseits der souveränen Aufmerksamkeit. Auf der anderen Seite beruhte der gesamte Konflikt des Kalten Krieges auf der ökonomisch-ideologischen Konkurrenz zwischen moralischer Ökonomie einerseits und herrschaftsfreier Kapitalökonomie anderseits.

Was heute leichtfertig als von Staaten autarke unkontrollierte Finanzsphäre verworfen wird, war eine bemerkenswerte Errungenschaft, welche die heutigen ökonomischen Leistungen erst ermöglichte. Die Autonomie der ökonomischen Sphäre definiert sich durch die Loslösung von der – so geschwächten – Souveränität.

Das erzeugt eine Paradoxie: Ganz im Sinne der ursprünglichen Souveränität ist eine starke Wirtschaft einerseits der Garant der Politischen Ökonomie und somit eines starken Militärs. Anderseits liegt die Voraussetzung ebendieser ökonomischen Stärke in der Abtrennung von der Souveränität als Teil der Gewaltenteilung, bei der Herrschaft und Ökonomie zwingend auseinanderfallen. Sie haben notwendige, aber schmerzhafte Berührungspunkte, wie es die Debatte um Steuererhebung zeigt, eine Art Staatsdividende auf die inneren wirtschaftlichen Verhältnisse. Besonders prägnant wird das am Beispiel von Ökonomien, die nahezu ausschließlich auf den Rohstoffexport bauen.[36]

Der Rohstoffexport erzeugt eine Abhängigkeit von den Exportmöglichkeiten und -preisen. Er ist zwingend nach außen gerichtet, wie es die Debatten um Nord Stream II exzellent veranschaulichen. Anderseits erzeugt er enorme, aber volatile Einnahmen, denen gegenüber Steueraufkommen wenig ins Gewicht fallen. In der Folge werden Bevölkerung und Verwaltung des Landes polarisiert: Einerseits in eine Elite, die von den Erlösen unmittelbar profitiert und nicht auf die Breite der Bevölkerung, die Institutionen oder Investitionen angewiesen ist. Anderseits bleibt eine Mehrheit ohne Aufstiegschancen oder Partizipationsmöglichkeiten, als Bittsteller abhängig. Mit anderen Worten: Eine moderne Ständegesellschaft.[37] Solche Gesellschaften setzen nicht auf die breite Qualifikation und Arbeitskraft ihrer Bevölkerung, denn sie nützen im Angesicht der Exporterlöse nicht. Folgerichtig prägen sie ihrerseits weniger hochqualifizierte ökonomischen Leistungen und Mehrwert aus, die ihrerseits ein erhebliches Steueraufkommen generieren. Alexander Etkind 2020 zeigt diese Lücke moderner Theoriebildung auf, die häufig vom demokratischen Bias einer qualifizierten und souveränen Bevölkerung aller Staaten ausgeht. Die Entwicklung und Effizienz der Institutionen, fortgeschrittene Eigentumsrechte, technischer Fortschritt in Wissenschaft und Unternehmen, Freizügigkeit und soziale Mobilität schaffen attraktive Orte für die globalen Eliten:

Das alles bleibt in einem ressourcenabhängigen Staat aus, weil die Herrschenden es für ihr staatliches Gewerbe nicht benötigen. In einem solchen Land existieren das Öl und die Ölindustrie und die (bei der Förderung überflüssige) Bevölkerung jeweils für sich. […] Die Elite des ressourcenabhängigen Staates hortet ihre Guthaben in Staaten, die auf Arbeitskraft setzen. Selbst wenn diese Gelder dort nach unten durchsickern und den Armen und Kranken zugutekommen, so geschieht das nicht am Ort ihrer Herkunft, sondern an ihrem Aufenthaltsort. Das ist auch der Ort, wo die Elite ihre Konflikte löst, ihre Häuser kauft und wo ihre Familien leben. Auf paradoxe, wenn auch nachvollziehbare Weise investiert diese Elite in genau jene Institutionen, die sie bei sich zu Hause ignoriert oder sogar zerstört: in faire Gerichte, gute Universitäten und saubere Parks.[38]

Von der Politischen Ökonomie zur Digitalen Souveränität

Demgegenüber umfasst, wie noch gezeigt wird, eine digitale Souveränität zwar die Breite der Bevölkerung, anderseits aber auch das Wechselspiel zwischen Staaten. Souveränität die von innen her nach außen drückt und wirkt: “the way we make war reflects the way we make wealth — and the way we make anti-war must reflect the way we make war”[39] Ansätze dieses Gedankens finden sich in den sicherheitspolitischen Konzept der Soft- und Hardpower eines Staates in Form von DIME (Diplomacy, information, military und ecomomics) und seiner erweiterten Form MIDFIELD: military, informational, diplomatic, financial, intelligence, economic, law, and development wieder.[40] Begrifflich erfolgt die Verschiebung vom Großraum zum Wirtschaftsraum, von der Interessensphäre zum Freihandelsabkommen mitsamt Handelswegen, welche mit Hilfe einer Deep Blue Navy abgesichert werden.

Diese Art ökonomischer-souveräner Wechselwirkungen sind für eine Digitale Souveränität konstitutiv. Die Digitalisierung prägt die Binnenverhältnisse in Form von kompetenten hochgebildeten privaten Nutzern, die ihrerseits Träger der Technologien sind. Wesentlich bleibt die ökonomische Potenz – und somit die zugrundeliegende Wirtschaftsordnung, welche die digitale Entwicklung in solchen Größenordnungen überhaupt erst ermöglicht. Sie rechtfertigt die ungeheuren Investments, die ihrerseits Netzwerkeffekte erzeugen und Digitalkonzerne ausprägen. Eine digitale Souveränität baut zwingend auf dieser ökonomischen Dimension auf, messbar in der Zahl von Nutzern, Geräten, Zugang, Steuerzahlungen und Bildung. Diese erzeugen ihrerseits neue Netzwerkeffekte und aggregieren für unmöglich gehaltene Kapitaldimensionen. Das ist die tiefere Bedeutung des Allgemeinwissens: Die Digitalisierung ist eine durch und durch zivil getriebene Kultur und Technologie, sowohl auf Seiten der Entwicklung als auch der Nutzung. Sie drückt sich in der flächendeckenden individuellen Infrastruktur und Weiterentwicklung aus. Die Pandemiebewältigung gelingt im 21. Jahrhundert trotz aller menschlichen Fehler so gut, weil es ebendiese fertig ausgerollte, zivil feingranular verbreitete Infrastruktur gibt. Es sind die staatlichen Institutionen, welche rückständig sind.

Die Digitalisierung prägt die Binnenverhältnisse in Form von kompetenten hochgebildeten privaten Nutzern, die ihrerseits Träger der Technologien sind.

Die Infrastruktur wird damit erstmalig selbst zum Teil des Souveränitätsbegriffes: Souveräne Güter wie die Clouddienstleistungen und Smartphones funktionieren nur aufgrund einer breiten Konsumentenbasis. Dafür gibt es ökonomische Schwellenwerte, die grob geschätzt bei 300 Millionen Nutzern liegen, wie es am Beispiel des Clouddienstes ‚Amazon Web Services‘ (AWS) sichtbar wird. Ihr Umsatz betrug 2020 46 Milliarden Euro[41], was dem Jahreshaushalt des Bundesministeriums der Verteidigung Deutschlands entsprach. Wie einst bei der Bank of England hat die Digitalisierung eine neue Rolle und Dimension der Privaten und des Privaten eröffnet, die nicht länger wegzudenken ist. Für die klassische Souveränität bedeutet das eine Weiterentwicklung um die politische Ökonomie von Infrastruktur und Privateers.

Digitale Gewaltmittel gegen klassische Souveränität

Innerhalb dieser Mechaniken erschlossen und erschließen Staaten das Internet sicherheitspolitisch und verwandelten es zur Dimension Cyber. All das geschah im Schatten eines „Endes der Geschichte“, die einen Sieg höherer Ordnung und damit ein Ende der Notwendigkeit für Strategie und Sicherheitspolitik suggerierte. Jedoch blieb das politische System konkurrierender Souveräne erhalten, welches mit dem Kalten Krieg nicht einfach aufhörte, sondern vielmehr ein infinite game darstellt. Auch jenseits eines Kalten Krieges konkurrierten Souveräne mit den ihnen verfügbaren Mitteln darum, den jeweils anderen ihren Willen aufzuzwingen – und um ebendiesen abzuwehren.

Im Falle der Volkssouveränität von Demokratien werden dabei die Bürger und ihre Öffentlichkeit zur Zielscheibe konkurrierender Staaten. Diese entwickeln Mittel, um die Bevölkerung gezielt und individualisiert anzugreifen. Technisch wurde das durch die Digitalisierung möglich. Man könnte auch sagen: „Die Daten kommen durch“. Und Anders als Flugblätter und das Radio ist in diesem Fall die Einwirkung von außen nicht auf dem ersten, häufig auch nicht auf dem zweiten Blick erkennbar. Folgerichtig müssten diese Kräfte deskriptiv als Gewaltmittel identifiziert und normativ erfasst werden, um dann blockiert oder bekämpft werden zu können. Die Fähigkeit, diesen neuen Mitteln zu trotzen wäre ein Ausdruck von Resilienz, wobei mit Blick auf die wahrscheinlichen Wahlmanipulationen hier Demut angebracht ist. Umgekehrt begrüßen die demokratischen Souveräne es, wenn in anderen Ländern konkurrierende Herrschaftsmodelle durch basisdemokratische Bewegungen herausgefordert werden.

Was theoretisch anmutet, ist unlängst geschehen: Die sogenannten „Farbrevolutionen“ waren Regierungsumstürze durch Massenproteste, hervorragend organisiert und technisch unterstützt. Sie weisen einen höheren Wirkungsgrad auf als genuin militärische Mittel. Entsprechend werden sie je nach Perspektive konträr wahrgenommen und bewertet: als Kriegsführung, als Widerstand oder als Demokratisierung.[42] Dabei verschwimmt der Unterschied zwischen Sozialtechnologie und Kommunikationstechnologie, beides bleiben Mittel zum selben Ziel. Was die USA seit 2005 als Hybride Kriege und vernetzten Ansatz konzipierte[43], wurde nach der Annexion der Krim 2014 seitens der NATO und ihrer Partner als eigenständige „Gerasimov-Doktrin“ auf Russland projiziert.

Man muss in aller Deutlichkeit in Erinnerung rufen: Krieg hält sich nicht an die normativen Definitionen. Krieg definiert sich durch die Abwesenheit von Verträgen: Prozessual die Erosion, der Bruch und schließlich die Aufhebung von Normen. Umgekehrt sind Normen die Friedenslinien zur Einhegung des Krieges, und zur globalen Ausdehnung der Friedenslinie. Ebendas ist der vertragliche Friedensschluss. Die Errungenschaft der normativen Einhegung des Krieges reduzierte die zerstörerische Wirkung stets noch destruktiverer Gewaltmittel. Aber eindeutige normative Schwellen fordern geradezu die Entwicklung von alternativen Maßnahmen und Mittel heraus, welche die Normen unterlaufen. Der Krieg wandelt sich, er wird niederschwelliger, gesprenkelt und punktuell. Besagte Maßnahmen und Mittel dienen maßgeschneidert der Neutralisation der jeweiligen Center of Gravity: Wirtschaftssanktionen gegen die ökonomische Elite von Rohstoffexporteuren, technische und finanzielle Unterstützung organisierter Massenproteste gegen autoritäre Strukturen, oder fake news in Verbindung mit manipulativen Narrativen gegen die demokratischen Volkssouveräne.

Die Errungenschaft der normativen Einhegung des Krieges reduzierte die zerstörerische Wirkung stets noch destruktiverer Gewaltmittel. Aber eindeutige normative Schwellen fordern geradezu die Entwicklung von alternativen Maßnahmen und Mittel heraus, welche die Normen unterlaufen. Der Krieg wandelt sich, er wird niederschwelliger, gesprenkelt und punktuell.

Umgekehrt erzwingt die normative Selbstbeschränkung der Nutzung offensiver und gewalttätiger Mittel die Entwicklung von eigenen geheimdienstlichen Institutionen, für welche die verfassungsmäßigen Beschränkungen und Normen außer Kraft gesetzt werden. Mit anderen Worten: Das Geschäft der Nachrichtendienste ist der Rechtsbruch. Doch ebendiese Institutionen haben souveräne und juristische Beinfreiheit, sie sind für Normabweichungen geschaffen, für Störungen und Innovationen prädestiniert. So avancierten sie jenseits der Friedenslinien zur Kavallerie in der digitalen Sphäre.


Dr. Martin C. Wolff (http://mcwolff.de) ist der Vorsitzende des Clausewitz Netzwerks für strategische Studien e.V. mit Sitz an der Führungsakademie der Bundeswehr. Er arbeitet als Unternehmer und Wissenschaftler in Berlin, lehrt als Dozent für Philosophie und Digitale Ökonomie an der Humboldt Universität zu Berlin und berät Behörden sowie Non-Profit-Organisationen bei Digitalisierungsfragen. Seine Forschungsinteressen betreffen die Theorie und Praxis der Digitalisierung; Phänomenologie von Konflikten und die Konzeption von Cyber & IT-Security. Mit seiner Dissertation „Ernst und Entscheidung“ entwickelte Wolff eine philosophische Grundlagentheorie zu Konflikten. Bei den in diesem Artikel vertretenen Ansichten handelt es sich um die des Autors/der Autorin.


[1] Julia Pohle, Digital sovereignty — A new key concept of digital policy in Germany and Europe (Berlin, 2020), 18.

[2] Dieter Kugelmann, Landesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Rheinland-Pfalz, 22.02.2021. Offenkundig war es unmittelbar nach der Veröffentlichung so peinlich, dass es kurzerhand vom Netz nahm und zur Verschlusssache erklärte: „Der Landesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Rheinland-Pfalz hat das von Ihnen beantragte 10-Punkte-Papier in Anwendung von § 5 Abs. 2 Nr. 4 des Landessicherheitsüberprüfungsgesetzes Rheinland-Pfalz als „VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH“ eingestuft, da dessen Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen des Landes Rheinland-Pfalz nachteilig sein kann.“ Die ursprüngliche Version wurde von www.archive.org gesichert.

[3] Jakob Kullik, Deutschlands Cybersicherheitsstrategie im nächsten Jahrzehnt, BAKS-Papiere 2/21.

[4] „Datenstrategie der Bundesregierung,“ Kabinettfassung (27. Januar 2021), 49-55.

[5] „Strategie Künstliche Intelligenz der Bundesregierung,“ November 2018, aktualisiert Dezember 2020.

[6] Sven Herpig, Stellungnahme, Ausschussdrucksache 19(23)088, Bundestagsausschusses Digitale Agenda am 28. Oktober 2020 zum Thema „Datensouveränität im Zusammenhang mit dem Projekt GAIA-X, Datenräume und Datenstrategie“.

[7] Wissenschaftlicher Beirat des BMWi, Digitalisierung in Deutschland – Lehren aus der Corona Krise, Berlin, 12.03.2021.

[8] Carl Schmitt, Politische Theologie (Berlin, 2004), 43.

[9] Lin-Manuel Miranda, Hamilton (New York, 2015).

[10] Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts 1920; Reine Rechtslehre 1934.

[11] Niklas Luhmann, Macht (1975), 9-12.

[12] Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Buch I, Kap 2; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Abt. 3, Kap. I, §16 Tübingen, 1922.

[13] Tom Lehrer, “The Norwegian Broadcasting Corporation – the NRK, Norway,” Oslo, 11.09.1967.

[14] Carlo Masala, „Möchte nicht wissen, wie oft ukrainische Politiker:innen am Tag den 5.12.1994 verfluchen, als die Ukraine ihre Nuklearwaffen im Tausch gegen Sicherheitsgarantien ( Budapester Memorandum) aufgab,“ (04.04.21_13:31 Uhr; Twitter).

[15] Josef Braml, „US-Geo-Ökonomie: Wenn das Militär zu Marktmacht und der Dollar zur Waffe wird,“ Atlantik Podcast, DAG 2021.

[16] Die Steigerung der Defensiv-Kapazitäten einer Seite reduziert die Gesamtsicherheit. Hans M. Kristensen, Matthew G. McKinzie, Robert S. Norris, The protection paradox, Bulletin of the Atomic Scientists, 60:2, 68-77, DOI: 10.1080/00963402.2004.11460771; Thomas C. Schelling, Arms and Influence, Yale 1967.

[17] Martin C. Wolff, Ernst und Entscheidung (Berlin, 2016), 69.

[18] Stanley Baldwin, “A Fear for the future.” Vor dem House of Commons als Lord President of the Council, 1932 auf Grundlage von Gulio Douhets, The Command of The Air.

[19] Carl Schmitt, Land und Meer (Stuttgart, 2008), 40-50. und Der Nomos der Erde (Berlin, 2011) 143-152.

[20] Jacques Gernet, Die chinesische Welt: Die Geschichte Chinas von den Anfängen bis zur Jetztzeit (Frankfurt, 1988), 336.

[21] Der Nachklang dieser moralischen Institution findet sich heute in Form seines säkularisierten Nachfolgers, dem UN-Generalsekretär. Eine Institution mit moralischer, symbolischer und kommunikativer Macht – aber eben keine souveräne Institution. Vielmehr eine legitimatorische Institution für Souveränität. Die Reichweite des Papstes war die der christlich-europäischen Nationen, sie war nicht per se global. Außerhalb Europas galt sie erst einmal nicht.

[22] Carl Schmitt, Nomos, 61.

[23] Ernst Reibstein, Völkerrecht I (München, 1957), 260; insbesondere die Aufbereitung von Hugo Grotius zu einem universellen Völkerrecht De Jure Belli ac Pacis Libri tres, Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens (Paris, 1625).

[24] Herfried Münkler, Frankfurt 1992, 54/71.

[25] Alfred Thayer Mahan, Influence of Sea Power upon History (Wraclow, 2016), 17-32.

[26] Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, Zur Bekämpfung der Piraterie: Völkerrecht, Staatsrecht, Strafrecht (Berlin, 2009).

[27] David Immerwahr, How to hide an Empire (New York, 2019).

[28] Jaques Gernet, Die chinesische Welt (Frankfurt, 1988), 336-352.

[29] Lennart Souchon, „Gunboat Diplomacy – Eine Methode der Politik,“ Symposium CNSS, Hamburg, 2017.

[30] Sarah Kirchberger, “European show of support for US in Indopacific will remain limited,” Financial Times, 19.05.21.

[31] https://www.bundeswehr.de/de/organisation/marine/organisation/marineschifffahrtleitung, abgerufen am 20.05.2021.

[32] Günter Ogger, Kauf dir einen Kaiser (München, 1978).

[33] Friedrich Engels, Anti-Dühring (Peking, 1972), 224.

[34] European Commission and HR/VP contribution to the European Council, EU-China A strategic outlook (Strasbourg, 12.03.2019), 1.

[35] Farah Yassen Durani, “The Life-Cycle of Fiat Money,” Journal of Indian Research Vol 3, Nr 4 Mewar 2015

[36] Michael L. Ross, The Oil Curse: How Petroleum Wealth Shapes the Development of Nations (Princeton, 2012), 63-66.

[37] Ibid., 112-117.

[38] Idem.

[39] Alvin & Heidi Toffle, War and Anti War (New York, 1995), 2.

[40] Joint Doctrine Note 1-18, Strategy (Washington, DC: The Joint Staff, 2018), vii.

[41] Andy Jassy, “The wakeup call for cloud adaptation,” SiliconAngle, https://siliconangle.com/2020/11/30/exclusive-aws-chief-andy-jassy-wakeup-call-cloud-adoption/, abgerufen am 25.05.2021.

[42] Christoph Bilban, Hannah Grininger, Mythos “Gerasimov-Doktrin” (Wien, 2019), 27-26.

[43] James N. Mattis, Frank Hoffmann, “Future Warfare: The Rise of Hybrid Wars,” Proceedings Magazine, 11/2005, <http://milnewstbay.pbworks.com/f/MattisFour BlockWarUSNINov2005.pdf>, abgerufen am 25.10.2007.

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