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Katastrophenwinter 2023 - Fiktion oder bald Wirklichkeit?

Abstract: Dieser Beitrag zeigt ein sehr düsteres, aber realistisches Szenario für den kommenden Winter auf, welches für nur wenige Menschen wirklich vorstellbar ist. Verantwortungsträger neigen zur Truthahn-Illusion oder meiden wider besseres Wissen die notwendige Aufklärung und Sicherheitskommunikation, um die Gesellschaft auf einen möglichen Katastrophenwinter vorzubereiten; meist mit dem Argument, dass man die Menschen nicht verunsichern möchte. Genau damit wird der Grundstein für ein chaotisches und unüberlegtes Handeln gelegt, weil Menschen unter Stresssituationen zum Tunnelblickverhalten neigen. Übertriebene „Hamsterkäufe“ sind etwa ein Ausdruck davon.

Ein anderes Argument ist, dass die Menschen jetzt krisenmüde seien und man sie daher nicht mit einem weiteren Thema konfrontieren möchte. Wir haben aber nun nicht wie bisher nur eine Krise vor uns, sondern gleich mehrere schwere, die sich auch noch wechselseitig verstärken können. Daher wird es mit jedem nicht genutzten Tag schwieriger, den Ernst der Lage zu vermitteln, ohne Überreaktionen auszulösen. Uns fehlt als Gesellschaft die fundierte Basis („Resilienz“), um mit solchen Hiobsbotschaften umgehen zu können. Die fehlende Sicherheitskommunikation und „Geistige Landesverteidigung“ der vergangenen Jahrzehnte fällt uns jetzt auf den Kopf.


Problemdarstellung: Wie wirken sich die aktuellen und kommenden gesamtstaatlichen Herausforderungen auf Staat und Gesellschaft aus?


Bottom-line-up-front: Ein weiteres Zuwarten und hoffen auf eine wundersame Besserung der Lage ist fahrlässig und verringert mit jedem Tag die gesellschaftliche Handlungs- und Krisenbewältigungsfähigkeit.


Was nun?: Für die zwingend notwendige gesellschaftliche Krisenfitness braucht es jetzt eine rasche und transparente sowie ehrliche Sicherheitskommunikation, die auch das anspricht, was man nicht weiß und wo für alle Unsicherheiten bestehen. Die bisher fehlende Sicherheitskommunikation und gelebte Verantwortungsdiffusion hat bereits zu einem enormen Vertrauensverlust in die Verwaltung und Politik geführt und nimmt mit jedem weiteren untätigen Tag zu. Noch haben wir die Möglichkeit, sinnvolle Maßnahmen vorzubereiten und umzusetzen.


Katastrophenwinter 2023
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Ohne Strom mit Kerze
Source: shutterstock.com/Yevhen Prozhyrko

„Wir können die Realität ignorieren, aber nicht die Konsequenzen einer ignorierten Realität.“[1]


Ein unfassbarer Katastrophenwinter?


Steuert Europa und damit auch Österreich auf einen unfassbaren Katastrophenwinter zu? Derzeit gibt es zahlreiche Anhaltspunkte dafür und „schwache Signale“, die scheinbar wie vor über 100 Jahren ignoriert werden. Wiederholen sich die Muster der Geschichte? Gut möglich. Mit Sicherheit werden wir es erst in den kommenden Jahren wissen. Doch dann kann es bereits zu spät sein.


In diesem Beitrag wird eine systemische Betrachtung und die Darstellung von häufig übersehenen Zusammenhängen versucht, was meistens durch ein abgetrenntes Denken in Einzelteilen („Silodenken“) passiert. Denn aus der systemischen Perspektive gilt: Das Verständnis für die Details ergibt sich stets aus der Kenntnis des Ganzen, nicht umgekehrt.

Der Fokus liegt in diesem Beitrag vorwiegend auf der Energieversorgung und damit nur auf einem recht eingeschränkten Bereich in der derzeitigen hohen Dynamik und Unsicherheit. Auf die potenziell weitreichenden Folgen für die Wirtschaft, das Finanzsystem oder für uns als Gesellschaft insgesamt, kann nur am Rande eingegangen werden.

Kumulierende, vernetzte Krisen


Seit dem Ende des Kalten Krieges ab 1989 bis 2008 erlebte Europa eine sehr stabile Zeit mit einer prosperierenden Wirtschaft. Auch davor herrschte durch das „Gleichgewicht des Schreckens“ mehr oder weniger Stabilität. Diese sehr lange stabile Phase wurde durch eine Serie von Krisen abgelöst, welche 2007 mit dem Platzen der amerikanischen Immobilienblase losgetreten wurde. Während sich Risikoexperten der europäischen Banken noch im Sommer 2008 sicher waren, dass die amerikanische Krise keine wesentlichen Auswirkungen auf Europa haben könne, wurden wir alle wenige Wochen später eines Besseren belehrt. Obwohl der Crash erwartbar war und entsprechende Warnungen von Experten existierten, wurden diese – wie so oft – ignoriert. Vielmehr gab man sich der Truthahn-Illusion hin, die auch in anderen Bereichen immer wieder zu beobachten ist.


Diese sehr lange stabile Phase wurde durch eine Serie von Krisen abgelöst, welche 2007 mit dem Platzen der amerikanischen Immobilienblase losgetreten wurde.

Truthahn-Illusion


Ein Truthahn, der Tag für Tag von seinem Besitzer gefüttert wird, nimmt aufgrund seiner täglichen positiven Erfahrungen (Fütterung und Pflege) an, dass es der Besitzer nur gut mit ihm meinen kann. Ihm fehlt die wesentliche Information, dass diese Fürsorge nur einem Zweck dient: Der Truthahn wird verspeist. Am Tag vor Thanksgiving, bei dem die Truthähne traditionell geschlachtet werden, erlebt der Truthahn eine fatale Überraschung.


Diese Metapher wird in der systemischen Fachwelt als Synonym für den Umgang mit extrem seltenen, aber mit katastrophalen Auswirkungen behafteten Ereignissen (High Impact Low Probability (HILP)-Ereignisse, Extremereignisse („X-Events“) oder strategische Schocks verwendet. Wir verwechseln gerne das Fehlen von Beweisen mit dem Beweis für das Nichtvorhandensein solcher Ereignisse.

Die Coronapandemie und ihre Folgen


Nach der amerikanischen Immobilienkrise folgten weitere Krisen: Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Staatsschuldenkrise, Eurokrise, Krimkrise, Flüchtlingskrise, bis Anfang 2020 mit der sich ausbreitenden Coronapandemie eine neue Dimension eingeleitet wurde: kumulierende, vernetzte Krisen, die gleichzeitig auftreten und sich wechselseitig verstärken. Die bisherige Bewältigungsstrategie: massive und stetig zunehmende staatliche Finanzinterventionen haben aber die Probleme eher hinausgeschoben und kumuliert, als gelöst, was auch an der sehr angespannten Situation im Finanzmarkt zu beobachten ist, welcher in Folge der erwartbaren Krisen ebenfalls außer Kontrolle geraten könnte.


Auch bei der Coronapandemie war man noch in vielen Bereichen bis Anfang März 2020 davon überzeugt, dass uns das nichts angehe. Es fehlten entsprechende Vorbereitungen, obwohl es seit Jahren entsprechende Warnungen gab[2], welche mit der üblichen Truthahn-Illusion beiseitegeschoben wurden.


Dabei hatten wir noch richtig Glück, denn es kam nicht, wie erwartet wurde, zu einer enormen Mortalitätsrate, welche die Versorgung zum Erliegen bringen hätte können. Nur weil wir bisher Glück hatten, sollten wir das jedoch nicht für die Zukunft als garantiert annehmen. Ganz im Gegenteil. Die Wissenschaft warnt weiter vor neuen und heftigeren Pandemien.[3] Haben wir aus den bisherigen Erfahrungen gelernt?


Nur weil wir bisher Glück hatten, sollten wir das jedoch nicht für die Zukunft als garantiert annehmen. Ganz im Gegenteil.

Schwere wirtschaftliche Verwerfungen und Folgen blieben bisher aus, was wohl auf den sehr hohen finanziellen Mitteleinsatz zurückzuführen ist („koste es, was es wolle“). Damit wurden die Probleme jedoch häufig nur in die Zukunft verschoben. Eine notwendige und sinnvolle Bereinigung („Anpassung“) hat kaum stattgefunden. Das ist zwar in bester Absicht passiert, muss aber wohl als Quick-and-Dirty-Lösung klassifiziert werden.

Aktionismus und Quick and Dirty-Lösungen


Eine Quick-and-Dirty-Lösung (QaD) konzentriert sich auf das Symptom. Sie lässt sich sofort umsetzen, während die fundamentale Lösung die Ursache des Problems zu beseitigen versucht. QaD-Lösungen sind meist schnell angewandt, verschlimmern aber langfristig das eigentliche Problem, während fundamentale Lösungen kurzfristig oft deutliche Nachteile bringen und sich erst langfristig als vorteilhaft herausstellen.


Quick-and-Dirty-Lösungen sind meist schnell angewandt, verschlimmern aber langfristig das eigentliche Problem, während fundamentale Lösungen kurzfristig oft deutliche Nachteile bringen und sich erst langfristig als vorteilhaft herausstellen.

Die Folgen andere QaD-Lösungen im Rahmen der Pandemiebewältigung werden erst nach und nach sichtbar. Die massive Zunahme von psychischen Problemen bei Kindern oder eine erhöhte Suizidrate unter Kindern und Jugendlichen sind nur ein schlimmer Teil davon, welcher nicht durch die Infektionen, sondern als wenig beachtete Nebenwirkung Coronamaßnahmenverursacht wurden. Ein typisches Kennzeichen von ignorierter Komplexität.

Fehlendes vernetztes Denken und Handeln


Eines der größten Probleme unserer Zeit: unser lineares, einfaches Ursache-Wirkungs- oder Entweder-oder-Denken. Dieses hat uns über Jahrzehnte sehr erfolgreich gemacht, ist aber nicht dazu geeignet, komplexe Probleme zu bewältigen.


Wir haben durch die Vernetzung und Digitalisierung in den letzten Jahrzehnten ein unfassbar komplexes System geschaffen, das immer verwundbarer und fragiler wurde. Während diese globalen Strukturen in stabilen Zeiten zum Wohlstand und zur wirtschaftlichen Prosperität beigetragen haben, werden sie in turbulenten Zeiten zu gefährlichen Sollbruchstellen.


Mit dieser Ambivalenz, also Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit, können wir jedoch mit unserem Schwarz-Weiß-Denken häufig nur schlecht umgehen. Gleichzeitig haben in den vergangenen Jahren Polarisierung und eine gesellschaftliche Spaltung deutlich zugenommen – nicht nur durch die Pandemie und den damit verbundenen Maßnahmen. Eine beträchtliche Rolle spielen dabei auch die (Sozialen) Medien, welche von der Polarisierung und Zuspitzung leben und diese menschliche Schwäche zum Negativen ausnutzen. Diese verschärfen die Probleme und tragen nicht zur Lösung bei.


Anstatt dessen würden wir ein Sowohl-als-auch- oder vernetztes Denken in Zusammenhängen und Kooperation benötigen, um mit der steigenden Komplexität und den damit verbundenen Folgen und Nebenwirkungen umgehen zu können. Dazu müssten wir unseren Denkrahmen erweitern. Aber das Sowohl-als-auch-Prinzip darf wiederum nicht zu einer „alles ist möglich“ Mentalität führen, was wieder kontraproduktiv wäre. Es bedarf daher eines radikal neuen Ansatzes, um den neuen Herausforderungen adäquat zu begegnen, wie beispielsweise die Entwicklung einer „Metavernunft“: Differenzierung statt Dogmen. Die Entscheidungsträger sind gefordert, die Fragen nach dem Ziel (wofür?), nach dem Ausmaß der Maßnahmen (wie viel?) und nach dem Verlust (zu welchem Preis) zu beantworten, bevor sie Lösungen bewerten. So können ohne Gesichtsverlust rasche Anpassungen an sich ständig ändernde Verhältnisse vorgenommen werden, ohne dem Vorwurf der Planlosigkeit ausgesetzt zu sein.


Es bedarf daher eines radikal neuen Ansatzes, um den neuen Herausforderungen adäquat zu begegnen, wie beispielsweise die Entwicklung einer „Metavernunft“: Differenzierung statt Dogmen.

Das Problem beginnt hier jedoch bereits bei unserem Bildungssystem, das auf die alte industrielle Arbeitswelt fokussiert und den Anforderungen der Netzwerkgesellschaft kaum mehr gerecht wird.


Daher erscheint es nicht weiter verwunderlich, dass es offensichtlich schwerwiegender Krisen mit enormen Schäden benötigt, um durch den Druck von außen eine Anpassung zu erzwingen. Eine äußerst unkluge Vorgehensweise, die durch unsere evolutionäre Prägung „Lernern aus Schaden“ geleitet wird.


Was in der Vergangenheit erfolgreich war („Selektion“), könnte in unserer heutigen, hoch wechselseitig abhängigen Welt und Versorgungslogistik rasch ein dramatisches Ende nehmen. Auch dazu gibt es genügend systemisch fundiertes und wissenschaftlich belegtes Wissen, das weder etwas mit den steigenden Verschwörungsmythen noch mit sonstigen Untergangspropheten zu tun hat. Auch hier hindert uns unser Entweder-oder-Denken eine richtige und nützliche Einordnung vorzunehmen. Gerne wird alles schnell in dieselbe Ecke gestellt. Eine gefährliche Kurzsichtigkeit, die uns nicht erst einmal ins Verderben geführt hat. Daher sind gerade zahlreiche Parallelen zu den „Schlafwandlern“ des 20. Jahrhunderts zu beobachten. Wiederholen sich die Muster der Geschichte?


Der Ukraine-Krieg und seine Folgen


Bestand noch bis Anfang Jänner 2022 die Hoffnung, dass die Pandemie in naher Zukunft enden könnte und dass damit eine Rückkehr in eine Zeit wie vor 2020 möglich sei, wurde diese mit dem Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine schlagartig zerstört und eine neue, bisher kaum für möglich gehaltene Dimension der Eskalation erreicht, welche das weiterhin vorhandene Pandemiegeschehen in den Hintergrund gedrängt hat.


Während noch immer viele Menschen und Verantwortungsträger meinen, dass es sich um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten handle, die wenig konkrete Auswirkungen auf uns habe, könnte uns die Realität rascher einholen, als wir derzeit für möglich halten. Denn wie sich abzeichnet, gehen die europäischen Sanktionen nach hinten los.


Als hätte es nicht bereits gereicht, dass durch den Krieg und die damit verbundenen Sanktionen die gesamte Weltwirtschaft aus dem Gleichgewicht gebracht wurde, wurde nun auch noch ein Wirtschaftskrieg losgetreten, der für die Europäische Union und andere Weltregionen in einen verheerenden Katastrophenwinter 2022 führen könnte. Eine mögliche Lebensmittelversorgungskrise ist schon breiter in der Öffentlichkeit angekommen.


Was noch nicht so breit bewusst zu sein scheint, ist, dass keine Gesellschaft ohne ausreichender und leistbarer Ressourcen und hier insbesondere Energie überlebensfähig ist. War das in der Vergangenheit häufig ein schleichender und länger andauernder, könnte heute durch die sehr hohen Abhängigkeiten von Logistikketten sehr rasch ein unfassbares Chaos losgetreten werden. Dies auch, weil es kaum mehr Rückfallebenen gibt, um mit derart schwerwiegenden Verwerfungen umgehen zu können.[4] Zudem ist eine moderne und völlig von einer funktionierenden Energie- und Telekommunikationsversorgung abhängige Hochleistungsgesellschaft deutlich verwundbarer, als viele andere Weltregionen.


Dies scheint bei den Reaktionen auf den Ukrainekrieg völlig übersehen worden zu sein, was wohl auch auf die übliche Vorgangsweise mit QaD-Lösungen und fehlendem vernetzten Denken zurückzuführen sein dürfte. Auch wenn man den Einmarsch nicht ohne Konsequenzen hinnehmen wollte, sollte man nicht den Ast absägen, auf dem man sitzt, auch wenn es in bester Absicht passiert. Denn sich von der überlebensnotwendigen Energieversorgung abzuschneiden, ist genau das. Dass eine kurzfristige Änderung der Energieversorgung aus technischen und infrastrukturellen Gründen nicht machbar ist, sollte der Hausverstand sagen. Daran ändern auch hochtrabende und markige Ansagen nichts. Die Physik lässt nicht mit sich verhandeln. Die Politik versucht das aber nicht erst bei diesem Thema. Auch die gesamte europäische Energiewende ist von vielen Wunschvorstellungen geprägt, die der harten Realität der Physik nicht standhalten können.


Dass eine kurzfristige Änderung der Energieversorgung aus technischen und infrastrukturellen Gründen nicht machbar ist, sollte der Hausverstand sagen.

Ein eskalierender Wirtschaftskrieg


Mitte Juli 2022 wird immer klarer, dass die europäischen Sanktionen nicht folgenlos bleiben werden. Aufgrund der hohen Abhängigkeit von russischen Ressourcen und insbesondere Energie ist Europa massiv erpressbar. Das wurde bei den Sanktionen und in den Jahren davor offensichtlich übersehen, was wohl auch daran liegen mag, dass es scheinbar kaum entsprechende Frühwarnsysteme gab und gibt.


Möglicherweise hat auch hier eine gewisse Überheblichkeit und Truthahn-Illusion mitgewirkt, frühe Warnhinweise zu ignorieren. Spätestens im Juli 2021 hätten die Alarmglocken läuten müssen, als die mitteleuropäischen Gasspeicher, die von der Gazprom genutzt wurden, nicht mehr wie üblich gefüllt wurden.[5] Offen bleibt, ob das schon ein Anzeichen für den Krieg war, oder die Speicher für noch billigeres Gas über Nord Stream 2 freigehalten wurden.


Spätestens im Juli 2021 hätten die Alarmglocken läuten müssen, als die mitteleuropäischen Gasspeicher, die von der Gazprom genutzt wurden, nicht mehr wie üblich gefüllt wurden.

Andere Warnungen, die bereits vor Jahren ausgesprochen wurden, nicht alles auf eine Karte, sondern auf Diversität sowohl bei den Anbietern als auch bei den Technologien oder Energieformen zu setzen, wurden ignoriert. Unsere einseitigen Abhängigkeiten wurden noch deutlich erhöht. Auch der generelle Ausverkauf von Kritischen Infrastrukturen ging weiter, ohne sich ernsthaft über mögliche negative Konsequenzen Gedanken zu machen – wobei es hier nie um die Schuld von einzelnen Akteuren geht, da auch dulden mitschuldig macht. In vielen Bereichen wurde und wird weiterhin weggeschaut und auf die Profitmaximierung geachtet.


Unsere enorme gesellschaftliche Verwundbarkeit ist insbesondere durch die sehr einseitige betriebswirtschaftliche Optimierung und Effizienzsteigerung sowie durch das sehr kurzsichtige Handeln entstanden. Alles, was nicht unmittelbar zum Kernprozess beigetragen hat, wurde outgesourct oder als „totes Kapital“ eingespart. Das wurde auch am Beginn der Pandemie sichtbar, als es zu erheblichen Problemen bei der Versorgung mit wichtigen und kritischen Gütern kam. Hat sich zwischenzeitlich etwas merklich geändert? Immer mehr Logistikketten gehen an ihr Limit und eine folgenschwere Kettenreaktion wird immer absehbarer. Die aktuellen Lieferschwierigkeiten sind wahrscheinlich nur ein Vorgeschmack.


Allerdings hätten wir bereits von vergangenen Konflikten und Sanktionen wissen können, dass Sanktion praktisch nie ihr Ziel erreicht, aber so gut wie immer große Schäden angerichtet haben.[6] Es darf daher an unserer Lernbereitschaft und -fähigkeit gezweifelt werden.

Eine realistische Gasmangellage


Mitte Juli 2022 befand sich die Gaspipeline Nord Stream 1 in Wartung und lieferte kein Gas nach Mitteleuropa. Die Befürchtungen, dass nach der Beendigung der Wartung die Lieferungen nicht wieder (voll) aufgenommen werden könnten, dürften sich bewahrheiten[7]. Es gibt aber keine Garantie, dass sie nicht noch zu einem späteren Zeitpunkt unterbrochen wird. Auch über den wichtigen österreichischen Gasknoten Baumgarten hätte mit Wartungsbeginn eine größere Menge an Gas ankommen sollen. Das Gegenteil ist passiert. Der Zufluss wurde deutlich reduziert.[8]


In der Politik und Verwaltung werden die Folgen einer möglichen Gasmangellage häufig unterschätzt. Auch hier handelt es sich um ein hochkomplexes System, das mit einfachen Verwaltungseingriffen („Energielenkung“) kaum beherrschbar sein wird.[9] Diese Feststellung wurde etwa bereits nach der deutschen länderübergreifenden Übung (LÜKEX 2018) „Gasmangellage in Süddeutschland“ getroffen.[10] Haben wir daraus gelernt? Nicht wirklich. Dabei war das Übungsszenario im Vergleich zur heutigen Reallage noch überschaubar und auf einzelne Teilaspekte eingeschränkt.


In der Politik und Verwaltung werden die Folgen einer möglichen Gasmangellage häufig unterschätzt.

Eine absehbar notwendige Energielenkung würde daher zu einem kaum absehbarem Chaos führen, wie das etwa die Erkenntnisse der Schweizer Sicherheitsverbundübung 2014 nahelegen.[11] Dabei ging es im damaligen Szenario „nur“ um eine Pandemie mit folgendem Blackout und einer Strommangellage. Das Szenario Katastrophenwinter 2022 umfasst noch deutlich mehr Dimensionen, die sich bisher wohl kaum jemand wirklich gemeinsam vorstellen konnte. Hätte man ein derartiges Übungsszenario angelegt, wäre man wohl für verrückt erklärt worden.

Katastrophenszenario Winter 2023

Aufgrund der bisherigen Entwicklungen sollten wir uns als Gesellschaft auf eine mögliche Gasmangellage in Mitteleuropa vorbereiten. Abgetrenntes und kleinkariertes Denken verhindert dies jedoch in den meisten Bereichen. Jetzt ist erst einmal Sommer- und Urlaubszeit angesagt. Parallelen zum Sommer 1914 tun sich auf, wo man sich im Juli auch noch nicht vorstellen konnte, dass in Kürze der Erste Weltkrieg beginnen könnte.[12]


Was bei der Gasversorgung häufig übersehen wird, ist, dass es nicht nur um die Themen Heizen oder Kochen geht, wie das in den Medien von gewissen Akteuren gerne vermittelt wird, auch nicht nur um die Industrie oder eine Rezession, sondern weit schlimmer, um einen möglichen gesellschaftlichen Kollaps.


Gasverbundsystem mit hohen Abhängigkeiten

Österreich verfügt, wie auch andere Staaten, nicht über ein rein nationales Gasversorgungssystem, sondern ist Teil eines europäischen Verbundsystems, auch wenn dieses nicht wie das Stromversorgungssystem hochgradig vernetzt ist. In den nationalen Speichern ist auch Gas andere Länder gespeichert, da diese etwa über keine eigenen Speicher verfügen. Westösterreich wird beispielsweise von Deutschland aus versorgt. Das Ganze wird über einen internationalen Markt abgewickelt. Das gespeicherte Gas gehört uns daher nicht unbedingt, auch wenn das in den Medien gerne so dargestellt wird. Natürlich könnte dieses beschlagnahmt werden, womit aber die europäische Solidarität sehr rasch am Ende wäre und ein noch viel größeres Chaos drohen würde. Ungarn hat dies bereits vorgemacht.[13] Kein Mitgliedsstaat ist heute autark überlebensfähig, was gerne vergessen oder ausgeblendet wird.


Das gespeicherte Gas gehört uns daher nicht unbedingt, auch wenn das in den Medien gerne so dargestellt wird. Natürlich könnte dieses beschlagnahmt werden, womit aber die europäische Solidarität sehr rasch am Ende wäre und ein noch viel größeres Chaos drohen würde.

Gerät das Verbundsystem durch massive Druckabfälle aus dem Gleichgewicht, weiß niemand, was wirklich konkret passieren wird. Ein instabiles System neigt im Generellen zum Chaos. Es wäre auf jeden Fall mit einer langen Wiederherstellungszeit zu rechnen. Gasspeicher könnten sogar unbrauchbar werden. Würde etwa der Druck auf der untersten Ebene, also bei den Haushalten, zu weit absacken, würden Sicherheitsventile ausgelöst werden, woraufhin jeder einzelne Haushalt manuell wieder ans Gasnetz genommen werden müsste.[14] Dem könnte durch eine Stromflächenabschaltung begegnet werden, wodurch das Gasnetz in Takt bleibt und nur „eingefroren“ wird, womit möglicherweise ein geringerer Schaden entstehen würde.


Ganz abgesehen davon, dass die Strom-, Lebensmittelproduktion und die chemische Industrie hochgradig von der Verfügbarkeit von Gas abhängig sind.[15] Können Vorläuferstoffe oder Produkte nicht mehr bereitgestellt werden, droht rasch ein Lieferkettenkollaps. Selten sind klare Unterscheidungen zwischen wichtig und nicht wichtig möglich/ Es gibt keine technische Trennung, die eine derartige granulare Steuerung ermöglichen würde.[16] Beispielsweise könnten dadurch etwa in Molkereien Tonnen von Milch nicht verarbeitet werden und müssten entsorgt werden.


Die Produkte einer Süßwarenfabrik wären grundsätzlich nicht überlebenswichtig. Wenn aber mit der Abwärme der Produktion 800 Wohnungen beheizt werden, hat das eine hohe Relevanz. Auch in der Arzneimittelherstellung gibt es viele unterschätzte Abhängigkeiten. Eine unterkomplexe QaD-Lösung kann daher rasch ein noch viel größeres Chaos auslösen, wie etwa auch die Nichtlieferbarkeit von Kabelbäumen für die Autoindustrie aus der Ukraine gezeigt hat.[17]

Strommangellage

Eine mögliche Strommangellage gilt bereits seit Längerem als wahrscheinlichste vernetzte Krise. In dieser vernetzten Dimension hat sich das aber wohl noch niemand wirklich vorstellen können. Denn eine eskalierende Gasmangellage würde unmittelbar dazu führen, dass durch den sinkenden Druck die für die Stromnetzstabilität erforderlichen Gaskraftwerke nicht mehr ausreichend versorgt werden können.[18] In den ersten Monaten 2022 wurden in Österreich bis zu 30 Prozent des Stromes aus Gaskraftwerken bereitgestellt. Zusätzlich ist Österreich im Winter großer Stromimporteur.[19] Ohne Stromrationierung („Energielenkung“) wäre ein Winter mit zu wenig Gas kaum beherrschbar.


In den ersten Monaten 2022 wurden in Österreich bis zu 30 Prozent des Stromes aus Gaskraftwerken bereitgestellt. Zusätzlich ist Österreich im Winter großer Stromimporteur.

Alldem nicht genug, zeichnet sich bereits im Sommer 2022 eine schwere Strommangellage für den kommenden Winter in Frankreich ab. Hier sind die Strompreise für das 4. Quartal 2022 im Futuremarkt bereits auf bis zu 1.800 EUR pro Megawattstunde (MWh) explodiert. Dafür wurde noch vor einem Jahr unter 100 EUR bezahlt.


Mit dem aktuellen europäischen Strommarktdesign, das für stabile Zeiten mit großen Überkapazitäten konzipiert wurde, werden nun auch noch große physische Lastflüsse provoziert. Der Stromhandel versucht definitionsgemäß dorthin zu verkaufen, wo am meisten bezahlt wird. Dafür wurde die Stromversorgungsinfrastruktur jedoch nie ausgelegt und stößt bereits heute immer häufiger an Limits. Durch die fehlende Netzinfrastrukturanpassung muss mit steigenden Aufwänden („Redispatch-Eingriffe“) die Netzstabilität entgegen den Marktwünschen aufrechterhalten werden.[20]


Auch in Deutschland zeichnet sich eine Strommangellage ab, vor der der deutsche Bundesrechnungshof bereits im März 2021 gewarnt hat. Damals wurde jedoch nur der Atom- und Kohleausstieg in die Problembeurteilung einbezogen. Jetzt kommen auch noch eine mögliche Gasmangellage und ein möglicher Kohleengpass hinzu. Denn es sollten neben den letzten drei Kernkraftwerken auch eine Reihe von Kohlekraftwerken bis Jahresende stillgelegt werden. Andere wurden bereits ein Jahr davor im großen Stil vom Netz genommen. Gleichzeitig wurde ein Kohleembargo auf die russische Steinkohle verhängt, welche jetzt erst aus Brasilien oder Australien beschafft werden muss.


Daher hat auch die Betriebssicherheit drastisch abgenommen, weil niemand in Anlagen investiert, die ohnehin in Kürze stillgelegt werden. Zum anderen fehlt jetzt vielerorts die Kohle, da die Steinkohle aus Russland importiert wurde.